„Hochsommer, in Friendship ist alles still. Die Männer bestellen die flimmernden Felder. Kinder streifen durch die Wälder, waten in den Bächen, planschen in den kühlen Teichen. In der Stadt verweilen die Frauen in der Schwüle des Hutgeschäfts, beugen sich über Stoffballen oder Fässer voll klumpigem Mehl.“
Stewart O’Nan: „Das Glück der Anderen“, übersetzt von Thomas Gunkel, rororo, 2003.
Milzbrand im Briefkasten und die Ebola im Kühlschrank? Nach SARS und Hühnerpocken sind die Seuchen wird sehr angesagt und Steven Soderbergh legte unlängst mit „Contagion“ einen unterkühlten Streifen vor, in dem eine Gwyneth Paltrow nur kurz aufhusten kann und schon ist sie weg. Die Welt steht am Abgrund und nur eine Gruppe Wissenschaftler können sie in selbstlosem Einsatz retten.
Stewart O’Nan hat sich vor über zehn Jahren bereits einmal mit einer Epidemie beschäftigt und nicht die globale Apokalypse dabei im Sinn, sondern er wirft den Blick auf den Menschen in seiner Katastrophe. Dabei gelingt ihm ein Roman von griechischer Tragik. Dabei lässt er sich in vielen Punkten von dem Material inspirieren, das Michael Lesy 1973 in seinem Buch „Wisconsin Death Trip“(1973) zusammengetragen hat.
Der Roman beginnt verhalten, mithin gemächlich und der Autor ist so klug, dieses Tempo beizubehalten und seine Ruhe der heraufziehenden Apokalypse als Kontrast entgegenzusetzen. Nicht schnelle Schnitte, rasante Szenen oder krachende Sprache fangen den Leser, sondern das stille und angesichts der Heimsuchung beinahe kühl und rational geführte innere Zwiegespräch des Protagonisten Jacob Hansen. Wählte O’Nan in „Snow Angels“ einen multiperspektivischen Ansatz und schlüpfte sprachlich tief in die Charaktere hinein, nimmt er sich hier zurück, bewahrt Schlichtheit und folgt der natürlichen Chronologie. Keine zeitlichen Sprünge, keine Verschränkung der Handlungen, sondern ein Einpersonenstück. Aus dem sich drehenden, bald windenden inneren Monolog des Protagonisten Jacob Hansen gelingt die Projektion seiner Gedanken und Gefühle – soweit Literatur dies zu vermitteln vermag – hinüber auf den angesprochenen Leser. Zwar wird der Rezipient nicht Hansens Weltsicht in jedem Detail zustimmen; doch die Entscheidungen, die jenem als Sheriff und Prediger abverlangt werden, sind allgemein und die Reaktion des menschlichen Gemüts darauf sind es ebenfalls – gleich mit welcher Religion oder Philosophie sich der Leser durchs Leben bewegt.
„Über die Krankheit weißt du nicht viel. Sie ist tödlich, das reicht.“
Die Handlung, verlegt in den Ort „Friendship“ kurz nach Beendigung des Amerikanischen Bürgerkriegs – ein toter Soldat wird am Stadtrand gefunden. Zufällig scheint er dort gestorben und auch ohne sichtbare Gewalteinwirkung. Jacob Hansen, der Sheriff, lädt ihn auf seinen Karren und fährt den Toten in die Stadt, um dem Fall nachzugehen. Die kranke Frau, die er dabei auf der Wiese findet, nimmt er gleichfalls mit – als Prediger und Gottesmann handelt er christlich und staatstragend zugleich. Bald wird jene scheinbar harmonische Einheit jedoch auf die Probe gestellt und sich unter dem entfachten Druck aufzulösen beginnen. Denn der fürsorglichen Pflicht entspringt der Tod. Wo Nächstenliebe als Wert genommen und gelebt wird, bringt ihre Nähe Krankheit und Verderbnis und verwandelt in eine Vorhölle, wo eben noch das Leben sich der Sommersonne entgegenreckte. Der Tod folgt Jacob Hansen von nun an auf Schritt und Tritt. Als Abraham, als geschlagener Hiob streift er durch seine Stadt und wird, da er sie vor dem Untergang bewahren will, zum Midas der Diphterie und Todesengel von „Friendship“. Wie das geschieht hebt sich wohltuend von gängigen Katastrophenszenarien ab. Keine Affen, keine orangefarbenen Schutzanzüge und dramatischen Violinen!
O’Nans „Outbreak“ findet nicht im afrikanischen Dschungel statt oder in den Häuserschluchten einer zementierten Großstadt. Zwar vermochte auch Stephen King in „The Stand“ eine Epidemie wirkungsvoll und tatsächlich unaufdringlich zu inszenieren. Doch während dort der Tod am Anfang eines eschatologischen Plots steht und lediglich als Auslöser für Folgendes eingebunden ist, beschränkt O’Nan sich an dieser Stelle. Er braucht nicht die Welt, ihm reicht der Rahmen einer Kleinstadt in den 1870ern, um sein Todesspiel aufzuführen. Weder sind es Ebola noch Milzbrand oder eine andere gerade gehypte Seuche. Der Autor vereinfacht, wo er kann und so entsteht ein schlichter und überschaubarerer Mirokosmos, in dem das Elend sich personifiziert und nicht in Statistiken rationalisiert.
Nicht die medizinisch technische Seite interessiert, sondern der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch. Der menschliche Konflikt, den O’Nan in den drei Bezirken Liebe, Glaube und bürgerliche Pflicht auflöst, findet seinen Brennpunkt in der Figur des Erzählers: Jacob Hansen, der dem kleinen Ort als Sheriff, Prediger und Leichenbestatter dient. Auf den ersten Blick wirkt dies konstruiert, doch O’Nans Erzählkunst federt ab und macht gefügig, wo Bezüge holprig oder gar moralisch werden könnten.
„… doch in der Tür bleibst du stehen, um deine beiden Liebsten anzublicken, sie auf dem Sofa zu bewundern, und du bist froh, ja geradezu glückselig, denn fast hättest du sie verloren.“
„A Prayer for the Dying“ ist keine Gebrauchsanweisung, sondern eine Aufforderung, weiterzudenken und Schwierigkeiten zu übersehen, die im Rahmen des Menschseins nicht gelöst werden können, ohne eben jenen Menschen zu verleugnen und in Momenten der Tragik zu verletzen. Der Titel des Originals ist wohl gewählt. Zum einen umfasst er die einzige Option, die dem Prediger Hansen nicht genommen wird. Beten kann er selbst noch, wenn andere Möglichkeiten untauglich geworden sind. Ob er an diesen Gott zu glauben vermag, an dessen tauben Ohren die Gebete abprallen, sei offen gelassen. Zugleich umgreift „the Dying“ nicht allein die an der Physis Getroffenen, die sieche Gewordenen und ohne Aussicht auf Heilung rasch Sterbenden. Er zielt genauso auf die Lebenden, denn auch Hansen, obwohl seine Gesundheit nicht betroffen wird, stirbt einen langsamen Tod. Zwar am Körper immun gegen die Seuche, betreten Seele und Verstand einen abschüssigen Pfad. Das Sterben derer, die er liebt, denen nicht allein seine Aufmerksamkeit, sondern deren Glück seine gesamte Arbeitskraft galt, lässt ihn hinabsteigen in eine seelische Unterwelt, die ihn dem Todsein näher bringt als es jeder Virus vermocht hätte.
Weshalb O’Nan seine Hauptfigur jedoch zu einem Leichenschänder werden lässt, bleibt fragwürdig. Jener Akt der Verzweiflung mag aus dem Charakter der Figur möglicherweise notwendig sein. Aus ihrem abgebildeten und hervorragend dramaturgisierten Monolog ableiten lässt sich jene Wandlung nicht. Auch die gegen Ende angestrebte Erweiterung Hansens Charakter durch die nachträglich eingeschobene Erklärung, er habe während des Bürgerkriegs zum Kannibalismus Zuflucht nehmen müssen, um sein Leben zu retten, wirkt fremd und unnötig in diesem sonst so durchdachten Roman. Hansens Figur ist klar und deutlich genug, als dass sie derlei bedürfte und O’Nan auf Splatter-Elemente zurückgreifen müsste, um die Seelenpein dieses Mannes zu zeigen. Manchmal ist weniger mehr. Nicht jeder Gedanke bedarf eines Bildes. Doch sind dies zwei Nebensächlichkeiten, die angesichts der ansonsten gewahrten und fühlbar ausgelebten Handwerkskunst des Autors nicht schwer ins Gewicht fallen. Ein in sich geschlossener Text. Ein Juwel auf 220 Seiten.
„Nicht weil du Angst hast. Sondern weil du dich nicht in einen anderen Menschen verwandeln kannst.“
Bruten Butterwek