Ich schreibe diese Kritik nach etwa 12 Stunden Spielerfahrung und – mit voller Absicht – ohne dass ich das Spiel schon durchgespielt habe. Denn nach dem Spiel ist vor dem Spiel und nach meiner Erfahrung bleibt – gerade bei storybasierten Spielen – am Schluss immer eher ein Loch zurück, eine kleine Post-Gaming-Depression, die einem das Ende meist nicht als den erwarteten Höhepunkt vorkommen lässt und womöglich die Spielfreude retrospektiv überschattet.
Und ich verwende den Begriff der Kritik ebenso absichtlich, weil ich mittlerweile finde, dass ‘Review’ keine Absicht zur Wertung impliziert und ‘Kritik’ eben schon. Und oh, Warnung! Spoiler werden nicht bewusst vermieden, sind aber stark reduziert, insbesondere weil ich wie gesagt noch lange nicht durch bin. Zu guter Letzt: Bioshock Infinite ist ab 18. Also Kinder, ab ins Bett!
Wir erinnern uns: Anno 1960 stürzt ein Flugzeug in den Atlantik, ein einziger Überlebender rettet sich auf einen kleinen Leuchtturm und taucht ab in die Unterwasserstadt Rapture. Was als großartiger Einstieg in eine scheinbar Jules-Vernesque Science-Fiction-Welt beginnt, verwandelt sich schnell in einen Horrorthriller in dessen Zentrum der Spieler selbst steht und sich fragt, wen er in der Spielwelt darstellt. Während er ballert. Denn der Traum eines gewissen Andrew Ryan hat sich längst in einen Alptraum verwandelt, durch ADAM genetisch veränderte Bewohner greifen an und gepanzerte Menschmaschinen, die Big Daddys genannt werden, patrouillieren die menschenleeren Rohre und verteidigen ihre kleinen Schutzbefohlenen, die Little Sisters. Nachdem man einige Zeit die Aufträge des mysteriösen Atlas erledigt hat, erfährt man, dass man selbst Ryans Sohn ist, dessen Erinnerung verändert wurde und der jeden Auftrag, der mit “Wären Sie so freundlich…” erteilt wird prompt erledigt. Was für eine großartige Wende und gleichzeitig Bruch der vierten Wand, wenn dem Spieler bewusst wird, dass er vom Spiel gesteuert wird! Sollte es nicht anders herum sein? Dann tötet der Spieler Ryan, aber die Geschichte geht weiter und der Spieler folgt nun (scheinbar) seinen eigenen Anweisungen, denn Atlas entpuppt sich als Ryans Gegenspieler Fontaine und muss erledigt werden. Auch die Spielentscheidungen, die man im Verlauf getroffen hat, schlagen sich in spezifischen Endsequenzen nieder. Bioshock war 2007 ein Überraschungserfolg, ein Kunstwerk, eine tiefschürfende Steampunk-Fabel vor einer beeindruckenden, beklemmenden und feuchten Kulisse. Großartig!
Erfolgstrunken verlangt Publisher 2K nach einem Sequel, doch Erfinder Ken Levine (auch bekannt durch System Shock II) will etwas Neues schaffen, nicht nur einen Aufguss. Darum bekommen wir 2010 von 2k Marin (und ohne Levine) Bioshock 2, dass in der selben Location spielt und auch einige neue Dinge richtig macht aber lange nicht so innovativ ist. Ken Levine und Irrational Games aber basteln fleißig weiter an dem was am 26. März als Bioshock Infinite veröffentlicht wird. Und hier gibt es das komplette Kontrastprogramm.
Wieder kommen wir an einem Leuchtturm an, wieder verschaffen wir uns Zutritt, wieder ist unklar, wen wir darstellen. Wir wurden beauftragt sie zu befreien. Aber wen und woraus bleibt erstmal vage. Statt in die Tiefe zu sinken, steigen wir in ungeahnte Höhen auf. Die fliegende Stadt heißt Columbia, benannt nach (laut Wikipedia) “der Personifikation der Vereinigten Staaten”, die scheinbar im 19. Jahrhundert verbreitet war, aber bis heute nur in Relikten wie dem District of Columbia (Washington D.C.) überlebt hat. Wir schreiben das Jahr 1912 und was wir in den Wolken finden ist, aus jeder Perspektive, Science-Fiction. Auf fliegenden Inseln verteilen sich die diversen Stadtteile und nach unserer Taufe entsteigen wir den Wassern in eine hellerleuchtete Welt, Vögel zwitschern und Blumen blühen, das Paradies könnte man sich kaum schöner vorstellen.
Und so sehen es auch die Bewohner, die uns begegnen, alle samt fromme Christen, geführt von Father Zachery Comstock, dem Propheten, der hier nicht nur medial allgegenwärtig zu sein scheint. Doch dunkle Flecken tun sich im wahrsten Sinne des Wortes auf, denn die Sklaverei herrscht hier nach wie vor und das ist nicht das einzig Bedrohliche aus der Zeit des “American Exceptionalism”. Der Spieler, in Figur von Booker deWitt, wird ohne dass er weiss wie ihm geschieht als der prophezeite “Falsche Hirte” identifiziert und ab dann beginnt der Kampf. Im Verlauf befreit Booker die mysteriöse Elizabeth, die in einer großen Statue auf Monument Island gefangen war und plant sie zu seinen Auftraggebern nach New York zu bringen, was sich als schwierig herausstellt, weil die junge Frau ihren sehr eigenen Kopf hat.
Elizabeth hat die Fähigkeit Risse zu öffnen, Löcher in der Raumzeit oder ähnliches, die als Verbindung zu alternativen Dimensionen dienen. Während wir versuchen Columbia wieder zu verlassen und dabei auf diverse Hindernisse stoßen, erfahren wir, dass vieles, was diese verborgene Welt ausmacht erstunken und erlogen scheint, gar eine ganze falsche Mythologie um Comstock geklöppelt wurde. Ebenso erfahren wir mehr über Booker, der ebenfalls einiges auf dem Kerbholz hat und immer mehr zum Antiheld avanciert. Auch Elizabeths Rolle in der Inszenierung wird nur langsam klarer und wir steuern merklich auf große Enthüllungen zu. Ebenso begegnen wir zentralen Schlüsselfiguren von Columbia wie z.B. Daisy Fitzroy, die mit ihren Vox Populi Comstock zu stürzen versucht oder Cornelius Slate, an dessen Seite Booker im Massaker am Wounded Knee kämpfte. Richtig oder falsch? Gut oder Böse? Alles fließende Konzepte in B.I. Und dann sind da auch noch diese Lutece-Geschwister, Physiker, die einen alle Nase lang vor scheinbar unbedeutende binäre Entscheidungen stellen. Verwirrt? Na, dann versuche ich mal zu ordnen…
Die Welt in B.I. ist historisch fundiert, vielerlei Bezüge aus dem 19. Jahrhundert werden ein- und ausgebaut aber natürlich auch überhöht um die retro-futuristische Welt zu erhalten, die wie schon Rapture unheimlich reich an Tiefe und Textur ist und nicht einfach nur ein flacher Hintergrund, an dem nach Beschuss Einschusslöcher und Blut zurückbleiben. Dass dabei auch mal Referenzen in die Zukunft gemacht werden und Parallelen zu realen Diktaturen sichtbar sind (siehe Bild zur Rechten), wird kein Zufall sein. Details erfährt man aus Voxofons (ähnliche den Holobändern in Bioshock), von freundlich geskripteten NPCs oder kurzen Filmen, die an öffentlichen Automaten einzusehen sind. Einige Stilmittel sind dem ersten Bioshock entliehen, unser Protagonist verheddert sich immer mehr in den Fallstricken von Columbias Entstehungsgeschichte und seiner eigenen Biografie. Währenddessen gerät die Befreiung Elizabeths fast zur Nebensache und stellt auch nur die Exposition des Spieles dar. Einmal befreit begleitet sie uns eigenständig, findet Items und hilft uns in Notlagen. Verteidigen müssen wir sie nicht, aber nur sie kann Schlösser knacken und Risse öffnen, was zufällig auch essentielle Funktionen für den Spielverlauf sind. Diese Schlingel, so kommt man auch zu einem abwechslungsreichen Spielprinzip, das aber noch besser wird. Und dann ist da noch Songbird, eine monsterhafte Kreatur, die irgendwie mit Elizabeth verbunden ist… und uns massive Probleme bereiten wird.
B.I. ist ein Shooter und folglich nimmt das auch ca. 70 % des Gameplay ein. Wir können uns dabei diverser Waffen bemächtigen und Geschosse in der dünnen Luft verteilen. Außerdem gibt es Kräfte wie Teufelskuss, Sog oder Kontrolle, die wir mit der linken Hand nutzen können um eben Feuerbälle zu werfen oder Gegner auf unsere Seite zu ziehen, im übertragenen wie auch wörtlichen Sinn, beides ist möglich. Diese Kräfte bekommen wir über Tränke und sie verbrauchen Salz, so wie alle Waffen Munition verballern. Die erste von vielen sehr blutigen Auseinandersetzungen bestreiten wir mit bloßen Händen und dem Skyhook, mit dem wir uns an Haken festkrallen oder über die Skylines – einer Art Seilbahn – rutschen können, was unabhängig vom spielerischen Mehrwert auch toll anzusehen ist. Neben den Ordnungskräften Columbias bekommen wir es mit vielen Soldaten, Krähenmenschen, Leuten in Werkzeugrüstungen und Kampfrobotern zu tun, die George Washington recht ähnlich sehen. Und das blutige Massaker ist nur ein Vorgeschmack auf die vielen grausamen Szenen, in denen wir Columbia seine hässliche Seite förmlich abringen. Daneben gibt es ein paar Rätsel und wir müssen gelegentlich Gegenstände oder Charaktere finden. Klingt vielleicht stupide, ist es aber wegen des fortschreitenden Plots nicht.
Dann gibt es noch einige Rollenspielelemente, so können wir an Verkaufsautomaten gegen Silver Eagles bestimmte Waffen modifizieren (z.B. Munitionskapazität oder Rückstoß) oder unsere Kräfte verbessern. Außerdem finden wir regelmäßig Tränke mit denen wir unsere Lebensleiste, den Schild oder den Salzvorrat erweitern können. Und wir finden diverse Kleidungstücke (Hut oder Hose) mit besondere Buffs, von deren Sorte wir zwar viele besitzen aber eben nur je eine zur Zeit am Körper tragen und damit benutzen können.
Und sobald Elizabeth einem beisteht kann man auch noch Schlösser knacken, Schriften entschlüsseln und (auch im Kampf nützlich) über Risse die Umgebung ändern, indem man Haken oder Waffenautomaten manifestiert. Damit ist B.I. definitiv ein Shooter der komplexeren Art und dann wäre da ja noch… das Narrative!
Anders als in den vorhergehenden Bioshockern ist Booker ein relativ eigensinniger Charakter, der auch selbst spricht und nicht nur angesprochen wird. Das ist auch nötig, weil nur so eine Chemie zwischen Elizabeth und ihm entstehen kann und die scheint mir sehr zentral und funktioniert hervorragend. Gleichzeitig entsteht für den Spieler wieder eine Situation, wo die Ziele des Protagonisten womöglich dem eigenen Empfinden widerstreben. Bislang macht das Spiel davon noch nicht pointiert Gebrauch, es würde mich aber wundern, wenn das nicht noch kommt. Check, kommt definitiv. Als ich unlängst meinen Blogpost zum Interactive Storytelling (von 2006) erneut las, wurde mir klar, dass Bioshock schon 2007 und nun also der Nachfolger sechs Jahre später die Latte für diese Technik sehr hoch gelegt haben. Die Welt wird soweit simuliert, dass sie einem echt vorkommt (auch wenn sie es nicht ist), die Charaktere sind profund, vielschichtig und rätselhaft, viel Potential für Enthüllungen, Wendungen und… es kommt gleich… Emotionen! Die wenigsten Spiele legen es auf emotionale Erfahrungen an und die, die es versuchen, scheitern häufig. B.I. nicht, im Gegenteil, man wird emotional hin und her gerissen.
Und trotzdem ist da diese vertraute Spielmechanik, deren Kern (Zielen und Schießen) jeder versteht, der Rest findet sich. Selbst das Laufen, Fliegen oder Fahrstuhlfahren von einem zum anderen Plotpunkt wird so bedeutsam.
Über die technischen Parameter gehe ich ganz kurz hinweg: Unreal Engine 3, sieht einfach großartig aus, Sound genial, Soundtrack ebenfalls, KI ziemlich gut, im Fall von Elizabeth sogar hervorragend, insgesamt keine Gründe zu Meckern vorhanden. Und selbst wenn…
Was kann man nun als Fazit sagen? Die Kritiker sind sich einig, dass B.I. ein großartiges Spiel ist: Metascore 95% für PC, diverse Awards, noch mehr 90er oder vergleichbare Wertungen. Und womit? Mit Recht! Selbst wenn man die ersten Szenen des Spiels erneut sieht und spielt (was ich für die Screenshots gemacht habe) ist man noch immer erstaunt und beeindruckt und die Welt funktioniert einfach immer wieder und wieder. Und das gilt bisher für das gesamte Spiel, dass so viele großartige Umgebungen zu bieten hat und einen immer wieder neu mit liebevollen Details überrascht. Kein Wunder, dass dafür schon ein paar Jahre ins Land gehen müssen. Ich bin kein Freund von Shootern und demnach nicht besonders traurig, dass zumindest die ersten zehn Stunden relativ leicht durchzuspielen sind, danach bin ich dann auch an mehreren Stellen wiederholt gestorben, bevor ich den Dreh raus hatte. Die Schwierigkeit steigt, bleibt aber machbar. Gestandene Shooter-Spezialisten werden aber womöglich unterfordert sein. Ich allerdings würde das Gegenteil behaupten, ein schwereres Spiel führt bei mir eher zu mehr Frust und dann verpasst man die ganzen tollen Aspekte, die einem nur so um die Ohren fliegen: Die liebevollen NPCs, die sich zu Beginn über allerlei unterhalten und damit viele Aspekte der Welt vorweg nehmen, die oft gut versteckten Boni, die ebenso liebevoll drapierten Pixelleichen, die zur Mitte des Spiels hin die Schlachtfelder säumen. Und alles sehen wir konsequent aus der Egoperspektive des Helden, der diesmal klar umrissen ist und trotzdem Raum für den Spieler lässt. Obwohl man eigentlich nicht viel Entscheidungsfreiheit hat, das Spiel gibt einem keine Moral vor und keiner der Charaktere ist nur Freund oder Feind. Columbia ist nicht Rapture und B.I. ist in dem Sinne kein Horrorschocker wie die Vorgänger. Aber es ist fesselnd anders. Keine Dunkelheit, keine beklemmende Tiefe sondern genau das Gegenteil und trotzdem ist man gefangen in einer Welt, die einen nicht loslässt, aus der man flüchten will, aber nicht kann. In vielerlei Hinsicht ist B.I. keine Fortsetzung und will es auch gar nicht sein. Und nach Bioshock 2 kann man das den Entwicklern kaum verdenken. In Columbia sind die Möglichkeiten aber grenzenlos.
Das Jahr ist ja noch jung, aber ich wage trotzdem mal den Satz: Wenn Sie 2013 nur ein einziges Computerspiel kaufen, dann machen Sie mit Bioshock Infinite definitiv nichts falsch. Egal wie das Ende des Spiels ausfällt, schon nach einem Dutzend Spielstunden habe ich das Gefühl, dass sich der Kauf gelohnt hat. Apropos Kauf, BioShock: Infinite (uncut) kann man über diesen Link bei Amazon erwerben oder aber im gutsortierten Fachhandel – online oder offline. Eine lohnenswerte Videokritik liefert GamersGlobal mit der Stunde der Kritiker. Und wer selbst eine Meinung hat, die Kommentarfunktion steht offen!
Zum Einstieg hier noch ein Let’s Play Video von GameTube:
Und alle meine Screenshots: