Mary Sheedy Kurcinka ist Therapeutin im Bereich Erziehung und Familienberatung, ihr ursprünglich schon 1992 erschienenes, seitdem mehrfach überarbeitetes Buch war ein Bestseller in den USA und sie gibt Kurse und Workshops zum Thema ihres Buches. Sie führt zur Beschreibung der Kinder, die sie meint, den Begriff "Spirited" ein, der in der deutschen Ausgabe als "Temperamentvoll" übersetzt wird, eine nicht unbedingt falsche, aber doch, wie ich finde, ebenfalls unpassende Beschreibung, denn spirited bedeutet soviel mehr als temperamentvoll. Viel hilfreicher und passender finde ich den Begriff, den Nora Imlau im Zuge der Arbeit an ihrem bald erscheinenden Buch "So viel Freude, so viel Wut"* entwickelt hat, nämlich "Gefühlsstarke Kinder". Da geht es um Kinder, die von Geburt an anders sind als andere Kinder: wilder, bedürfnisstärker, fordernder, aber gleichzeitig auch feinfühliger, sensibler, verletzlicher. Und genau diese Attribute umschreiben den Begriff spirited viel besser. Ich werde also den Begriff Nora Imlaus in meiner Rezension parallel zu dem Begriff temperamentvoll verwenden, er trifft genau das, worum es in Kurcinkas Buch geht.
Das Buch ist in fünf große Teile und jeweils mehrere Unterkapitel gegliedert und mit 592 Seiten sehr umfangreich, liest sich aber flüssig und anschaulich, ist praxisnah und über alle Maßen hilfreich beim Verständnis eines solchen Kindes. Es ist an Eltern gerichtet, die "ein Kind groß[..]ziehen, das völlig normal, in allem aber 'etwas mehr' ist" (S. 14). "Es sind normale Kinder, sie haben nur mehr Intensität, mehr Beharrlichkeit, sind empfindlicher, haben eine höhere Wahrnehmungsfähigkeit, und an Veränderungen passen sie sich schwerer an als andere Kinder." (S. 19) Für die Eltern temperamentvoller Kinder kann das Leben mit ihnen eine große Herausforderung sein, denn sie "werden auch mit der Erschöpfung konfrontiert, die das Leben mit einem [solchen] Kind mit sich bringt..." (S. 27).
Diese spirited children zeichnen sich durch folgende charakteristische Merkmale aus:
- Intensität (heftig in allen ihren Reaktionen, seien sie nach außen oder nach innen gerichtet; einen Mittelweg gibt es selten)
- Beharrlichkeit (sehr ausdauernd bzw. stur, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben)
- Empfindlichkeit (reagieren stark auf Gerüche, Geräusche, Licht, Stimmungen, taktile Reize; schnell überfordert und überreizt, da sie alles aufsaugen)
- Hohe Wahrnehmungsfähigkeit (nehmen alles um sich herum wahr, alles wird gleichermaßen intensiv empfunden, dadurch wirken sie ablenkbar, verträumt oder unkonzentriert; andererseits sehr fokussiert auf Dinge, die sie interessieren)
- Schlechtes Anpassungsvermögen (Probleme mit Veränderungen und Übergängen)
- Probleme mit der Regelmäßigkeit (sie haben keinen Rhythmus, ihre Bedürfnisse sind schwer vorhersehbar)
- Hohe Energie (immer in Aktion, wirken unruhig, kaum Ruhephasen)
- Erste Reaktion (schrecken vor Neuem zurück, vorsichtig, brauchen Anpassungszeit)
- Stimmung (kritisch, unzufrieden, gefangen in Stimmungen)
Wer sich mit dem Thema High-Need-Babys/Kinder beschäftigt hat, wird sofort viele Übereinstimmungen feststellen. Dr. William Sears hat die bekannten 12 Kriterien für High Need-Babys aufgestellt, unter denen ebenfalls Charakteristika wie intensiv, fordernd, sehr empfindlich, hyperaktiv, unzufrieden, unberechenbar usw. zu finden sind. Auf dem Blog 2KindChaos finden sich eine ausführliche Beschreibung dieser Kriterien sowie weitere Informationen über High Need-Babys. Leider gibt es kaum Forschungen darüber, wie sich High Need-Babys weiterentwickeln und wie sie sich als Kleinkinder und auch später verhalten. Ich selbst sehe eine große Schnittmenge zwischen High Need-Kindern und spirited children und denke, Letztere sind möglicherweise einfach größer werdende High Need-Babys.
Viele dieser von Kurcinka beschriebenen Charakteristika treffen auch auf die hochsensiblen (high sensitive) Kinder zu. Spannend ist auch, dass Kurcinka genau den gleichen Prozentsatz für ihre spirited children angibt, wie Elaine N. Aron und andere Pioniere der Erforschung der Hochsensibilität als Anteil hochsensibler Menschen/ Kinder an der Gesamtbevölkerung ansetzen, nämlich 15-20% (siehe Kurcinka S. 29). Hierzu passen auch die 15%, die Jerome Kagan als leicht erregbar bzw. "gehemmt" (irritable) beschreibt. Kurcinka erwähnt hochsensible Kinder auch mehrfach im Buch, z.B. auf Seite 253 und 365, und ohne konkrete Unterscheidung. Allerdings sind natürlich nicht alle hochsensiblen Kinder als Babys High Need gewesen. Bei meinem Sohn war das tatsächlich der Fall, aber es gibt auch viele hochsensible Kinder, die ausgesprochen ruhige Babys waren. Ob das nun also das gleiche Phänomen ist, lässt sich schwer sagen. In jedem Fall gibt es bemerkenswerte Schnittmengen und Parallelen zu High Need-Babys und hochsensiblen Kindern.
Herausforderung
Kurcinka macht immer wieder deutlich, dass spirited children eine ungeheure Herausforderung für ihre Eltern sein können: "Vater oder Mutter eines temperamentvollen Kindes zu sein, kann ein einsames Unterfangen sein. Da diese Kinder 'mehr' sind, bleiben viele Ratschläge, die für das Aufziehen anderer Kinder funktionieren, bei temperamentvollen Kindern wirkungslos." (S. 27) Dieses Temperament ist genetisch veranlagt und hat weder etwas mit Krankheit, Unnormalität oder einem Erziehungsversagen der Eltern zu tun. Es ist nicht starr und unveränderlich, bleibt aber grundsätzlich gleich. Eltern können also nicht das Temperament, die Veranlagung des Kindes verändern, können aber durchaus viel dazu beitragen, dass solche Kinder ihr Potential besser ausnutzen und die durch ihr Temperament entstehenden Schwierigkeiten selbst beeinflussen können. "Sie sind es, die Ihrem Kind zu erkennen helfen, wenn sein Motor zu heiß läuft. Sie sind es, die Ihrem Kind die Worte beibringen, mit denen es beschreiben kann, was es empfindet. Sie sind es, die ihm Strategien beibringen, um die Spur reibungslos zu wechseln und zu bremsen, ohne ins Schleudern zu kommen." (S. 57) Das Buch möchte dazu beitragen, wirklich zum Fachmann für sein besonderes Kind zu werden, und es transportiert nicht nur unheimlich viel Wissen und Verständnis für diese Kinder, sondern auch jede Menge praxisorientierte Ratschläge, Strategien und Hilfen.
Genau davon handeln die folgenden Kapitel im Buch, in denen sich auch mal einiges wiederholt, was aber überhaupt nicht störend ist, weil immer wieder eine etwas andere Perspektive angewandt wird. Ich reiße nur einige Stichpunkte an; wer Interesse an diesem Thema hat, kommt um dieses Buch nicht drumherum und sollte es in Gänze lesen. Hilfreiche oder auch notwendige Strategien für das Leben mit einem temperamentvollen Kind sind beispielsweise: negative Etiketten umwandeln, das Kind nicht (mehr) als Problem betrachten, eine konsequente Routine im Alltag, Bewegung und bewusstes Atmen, den Reizpegel im Auge behalten, Hilfestellung bei Themen wie Schlafen und Essen, die sehr viel Selbstregulation (die oft nicht ausreichend vorhanden ist) erfordern, die Ablehnung neuer Dinge durch spirited children lediglich als erste Reaktion verstehen, nicht als letzte Entscheidung (sondern etwas mehrfach ausprobieren), Überraschungen vermeiden, Zeit für Übergänge geben, die immer problematisch sein werden, vorausschauend agieren, auf ein gleichbleibendes Energieniveau des Kindes achten (Ruhe, Rückzug bei Introvertiertheit versus Geselligkeit bei Extrovertiertheit) etc.
Introvertiert - Extrovertiert
Dem Thema Introversion - Extroversion widmet die Verfasserin ein eigenes Kapitel. Temperamentvolle Kinder sind eben nicht automatisch extro- oder introvertiert, sondern diese Veranlagung kommt dann nochmal zu diesem besonderen Temperament individuell hinzu. Wichtig ist diese Einteilung vor allem dafür, um die Energiequellen des Kindes (oder auch die eigenen) zu erkennen und ernst zu nehmen. Während extrovertierte Menschen ihre Energie im Wesentlichen aus dem Kontakt mit anderen Menschen ziehen (Geselligkeit), brauchen introvertierte Menschen Ruhe, Rückzug und das Alleinsein, um aufzutanken und ihren Energiespeicher zu füllen. Für Eltern temperamentvoller Kinder ist es essentiell, auf die Bedürfnisse ihres Kindes nach entweder Gesellschaft oder Rückzug einzugehen und Unterstützung im Erkennen und Wahrnehmen dieses Bedürfnisses zu geben. Bei introvertierten Kindern kann sich fehlende Ruhe beispielsweise in Aggressionen und Wut äußern: "Das nicht erkannte Bedürfnis nach Zeit für sich allein ist einer der Hauptgründe dafür, dass temperamentvolle Kinder ausrasten, mit ihren Geschwistern streiten oder garstig werden." (S.116) Eine sehr hilfreiche Erkenntnis, finde ich, und nicht nur auf's Kind, sondern auch auf introvertierte Erwachsene anwendbar. Bei meinem Sohn und mir trifft das jedenfalls gleichermaßen zu. Deshalb ist es essentiell wichtig, den Energiebedarf des Kindes zu beachten und einzuplanen (S. 117). Dadurch lernt es auch, selbst darauf zu achten und Strategien zum Halten eines guten Energieniveaus im Leben zu entwickeln.
Absolut deutlich wird im ganzen Buch, dass das Zusammenleben mit einem temperamentvollen Kind nicht nur das Erkennen der Individualität des Kindes bedeutet, sondern vor allem auch die Weiterentwicklung von sich selbst als Elternteil eines solchen herausfordernden Kindes. Ob es nun um das Energieniveau geht oder um den Umgang mit den eigenen intensiven Emotionen, die eigene Selbstregulation oder Konfliktfähigkeit - immer geht damit einher, sich selbst zu hinterfragen und ggf. zu verändern. Denn: "Durch eine Veränderung Ihrer Reaktion können Sie die Reaktion Ihres Kindes wirklich verwandeln." (S. 154) Für uns Erwachsene ist das oft sehr schwierig, da in den meisten Fällen niemand auf unsere speziellen Bedürfnisse als Kind eingegangen ist und uns niemand gecoacht hat, damit wir gut auf uns achten und unsere Bedürfnisse erkennen und artikulieren. So kann uns das Wesen, die Reaktionen unseres temperamentvollen Kindes manchmal triggern, da wir uns selbst sozusagen auf der gleichen Stufe befinden, wenn wir ein ähnliches Temperament haben. In solch einem Fall ist die Teamwork zwischen zwei Elternteilen sehr wichtig, damit sich zwei ähnlich tickende, gefühlsstarke Menschen, Kind und Elternteil, nicht noch gegenseitig potenzieren. Und da es sehr wahrscheinlich ist, dass mindestens EIN Elternteil eines temperamentvollen Kindes ebenfalls so ist, kann das Zusammenleben nochmal schwieriger sein.
Schlafen, Essen, Anziehen, Schule
Die Themen Schlaf, Mahlzeiten und Anziehen können riesige Hürden und der Quell stetiger Auseinandersetzungen im Familienleben sein. Dafür gibt Kurcinka sehr gute und einleuchtende Anregungen, die ich aus meiner eigenen Erfahrung mit einem solchen Kind nur bestätigen kann. Als ich beispielsweise verstanden hatte, dass mein Kind intensive Unterstützung beim Einschlafen benötigt, weil "es [nicht] so [ist], dass diese Kinder nicht schlafen wollen, sondern dass sie nicht schlafen können" (S. 405), konnte ich aktiv dafür sorgen, dass er rechtzeitig, nämlich vor kompletter Überreizung, seine dringend benötigte Erholungszeit bekommt. Auch beim Thema Essen muss man unter Umständen seine Vorstellungen und Erwartungen über Bord werfen. Viele Zwischensnacks, um das Energieniveau des Körpers zu halten, sind bei temperamentvollen Kindern nötig. Ich habe selbst bei kurzen Ausflügen immer etwas zu essen dabei, um eine Unterzuckerung des Kindes und damit einhergehende Wutanfälle zu vermeiden. Damit treffe ich immer wieder auf das Unverständnis anderer Eltern. Auch die anderen Tipps in punkto Mahlzeiten sind sehr hilfreich. Das Thema Anziehen ist zumindest bei uns eines der letzten täglich schwierigen Themen geblieben; wir haben dafür noch keine funktionierende Lösung gefunden, auch wenn Kurcinka hier ebenfalls viele gute Ansätze nennt.
Zum Schluss gibt es noch ein Kapitel zur Schule, das mich bestätigte, in Vorbereitung auf die Schule aus der Erfahrung mit meinem Sohn heraus vieles richtig beachtet zu haben, was andere Eltern für überflüssig oder unverständlich hielten.
Fazit
Die Autorin verspricht nicht, dass es zukünftig immer konfliktlos oder unanstrengend mit unseren spirited children sein wird. Aber es wird immer einfacher, je mehr man das Kind (und sich selbst) kennenlernt und sich aufeinander einstellt. Wo dies nicht ohne Weiteres intuitiv klappt, sind die Erkenntnisse, Ratschläge und Hilfestellungen von Kurcinka absolut horizonterweiterend, anregend und bereichernd. Das Buch war für mich ein Augenöffner im Umgang mit meinem Sohn; sicherlich hat sich im Laufe der vergangenen fast 7 Jahre sehr vieles eingespielt und wir können viel besser auf ihn eingehen als anfangs, aber all dies geballt und zusammengefasst zu lesen, war wirklich wie eine Offenbarung für mich. Jeder, der sein Kind in den Charakteristika erkennt, sollte dieses Buch lesen! Und sich bitte nicht vom unpassenden Titel abschrecken lassen.
Für manche Eltern, die Kinder haben, die sich von Anfang an sehr gut selbst regulieren können, mögen einige Ansätze von Kurcinka als übergriffig, altmodisch oder unnötig erscheinen. Immerhin geht es im Wesentlichen darum, dass die von ihr beschriebenen Kinder in allen ihren Angelegenheiten von uns gecoacht werden müssen, um Fähigkeiten zur Selbstregulation, Selbstfürsorge und Selbsterkenntnis zu entwickeln. Sie spricht z.B. von klaren, aber transparenten Grenzen (S. 258) und unmissverständlichen Anweisungen (S. 306), die bei solchen Kindern nötig sind. Das ist für uns bedürfnisorientierte Eltern schwer zu akzeptieren, denn es triggert und erinnert an die eigene Erziehung. Man stellt allerdings fest, dass diese Kinder tatsächlich einen sehr klaren Rahmen und eine feste Struktur brauchen und vor allem, dass sie (noch) nicht gut auf sich selbst achten können, sondern dafür Unterstützung benötigen. Dieses Buch ist wie kein anderes dafür da, den Eltern solcher Kinder Erkenntnisse über ihr besonderes Kind und Hilfestellungen im Umgang mit ihm zu vermitteln. Es geht um's gemeinsame Wachsen, um das Finden von Lösungen und Lernen von Strategien. Es geht um unsere besonderen, gefühlsstarken, temperamentvollen, intensiven, fordernden, sensiblen Kinder. Und nicht zuletzt auch um uns als Eltern.
Absolute Leseempfehlung!
Die Eckdaten:
Dr. Mary Sheedy Kurcinka: Wie anstrengende Kinder zu großartigen Erwachsenen werden. Der Erziehungsratgeber für besonders geforderte Eltern*, mvgverlag, Oktober 2017, 592 Seiten, ISBN 978-3868828641, € 19,99
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