Oder: Über Geschmack lässt sich nicht streiten, aber Hauptsache, wir holen uns ein paar Klicks mit dem ersten Review.
Geschenkter Gaul und so, ihr wisst schon: Also beschweren werde ich mich sicher nicht darüber, dass eine millionenschwere frühere Lieblingsband mal eben schnell und völlig überraschend ihr neues Album auf den Markt wirft. Natürlich nicht völlig für lau, wie das große Internet mehrheitlich behauptet, weil sich’s Steve Jobs Erben nämlich doch einiges haben kosten lassen. (Und damit ihrem Kerngeschäft, das anscheinend nicht mehr ausreicht, um die Massen zu begeistern, nochmals etwas Rückenwind verleihen.) Aber doch zum kostenlosen Download für jeden, den’s interessiert, bevor das Teil dann im Oktober regulär in den Handel kommt.
Ich hab mir also (und dies multipliziert mit ein paar Millionen haben sich die Apple-Leute wohl gewünscht!) gestern Abend, nachdem ich auf Twitter vom Songs Of Innocence-Release gelesen hatte, neuerlich einen iTunes-Account zugelegt, um möglichst rasch in diese neue U2-Platte rein zu hören. Natürlich konnte das auf der einen Seite nur enttäuschend sein, denn ein zweites Zooropa oder wenigstens ein neues Achtung Baby (Ja verdammt, ich bin in den 90er-Jahren aufgewachsen!!) wird’s von den Jungs wohl nicht mehr geben. Nachdem die beiden direkten Vorgängeralben How To Dismantle An Atomic Bomb und No Line On The Horizon zwar nicht übel waren, aber innerhalb des U2-Horizonts doch eher am Ende der Bestenliste anzusiedeln sind, kommt die Neue qualitativ zumindest in die Nähe eines aus Fansicht, so mein Eindruck, immer ein bisschen stiefmütterlich behandelten Unforgettable Fire. Und das ist, auf der anderen Seite, weit mehr als man erwarten durfte.
Eine Platte nach drei- oder viermaligem Hören zu beurteilen ist freilich ein Wagnis; immerhin fand ich die erwähnten beiden Listenabschließer anfangs auch jeweils ganz famos. Es sind auch jeweils einige wirklich gute Nummern drauf (Vertigo, City Of Blinding Lights, Yahweh bzw. Magnificent, Get On Your Boots, White As Snow), und keine wirklich schlechten; jeder Song für sich zumindest ok, aber über Albenlänge geht da doch einiges verloren. Und das ist der Unterschied, den der gestrige Release ziemlich rasch klar werden lässt: Die elf Tracks funktionieren hier sehr wohl im Zusammenspiel.
Das hat wahrscheinlich mit der meinerseits vermuteten späten Erkenntnis der U2-Mitglieder zu tun, dass ihre Zeit als Innovatoren – sei es The Edges oft kopiertes Gitarrenspiel oder der immer noch einzigartige U2-Sound der 90er-Jahre mit dem so spannenden wie sperrigen Abschlussalbum Pop – längst vorbei ist. Sowas nimmt einfach Druck raus. Wahrscheinlich trägt aber auch der Mix verschiedener neuer („angesagter“) Produzenten positiv dazu bei – weder Daniel Lanois noch Brian Eno sind anscheinend am neuen Album beteiligt gewesen –, dass dem Sound eine (bei U2) lange nicht gehörte Frische innewohnt.
Klar: Vieles ist hier Selbstzitat und einiges klingt so, als hätte man das, was sich Bands wie die faden Coldplay oder die wunderbaren Travis (stellvertretend für viele weitere) in den vergangenen 20 Jahren abgeschaut haben, einfach wieder 1:1 zurück geholt. Man höre hier zum einen Every Breaking Wave und zum anderen Song For Someone. Fast skurril wirkt, dass sich This Is Where You Can Reach Me Now tatsächlich auch ganz gut auf dem jüngsten (recht guten!) Album der auch schon mal funkiger unterwegs gewesenen Red Hot Chili Peppers gemacht hätte. Weiters hervor zu heben sind in diesem frühen Stadium des Kennenlernens von Songs Of Innocence noch California, Iris und The Troubles – U2s bester Rausschmeißer seit The Wanderer, der Kollaboration mit Johnny Cash, 1993, für Zooropa.
Selbstverständlich kann man all das aber auch völlig anders sehen und hören. Schließlich gibt es kaum etwas, das weniger objektiv und voreingenommen ist, als die moderne Kulturkritik. De facto beweist die Truppe um Bono Vox mit dieser Platte aber erstmals, dass sie nichts mehr beweisen muss. Schönes Album!
Druck & PDF