Dass die Große Koalition der Kleinen Opposition nur widerwillig Sprechzeit erteilte oder lieber gleich gar nicht auf sie zugehen wollte, ist die eine bittere Geschichte, die ein wenig über den Charakter der "Volksparteien" aussagt. Dass dieser Umstand kaum jemanden aufregte, ist die weitaus tragischere Geschichte dahinter, die etwas über den Charakter der deutschen Öffentlichkeit sagt.
Leck mich am Arsch, wo ham sie euch denn rausgelassen, sagte ich irgendwann laut, stand auf und stieg aus. Die beiden starrten mich erst doof an, machten dann aber weiter mit ihrem totalitär angehauchten Gequatsche.
Am selben Tag: Nach der Erwerbsschinderei blätterte ich die Seiten diverser Online-Zeitungen durch. Und es war mir plötzlich, als hätten die beiden Typen bei Spiegel Online ihre Kommentare abgesondert. Ich las beispielsweise, dass "die Wahl ein eindeutiges Ergebnis erbracht" habe und es wohl nicht sein könne, dass "Parteien mehr Gewicht haben als vom Wähler zugedacht". Sollte sich die Große Koalition dazu hinreißen lassen, der Opposition mehr Spielraum zu geben, wäre das eine undemokratische "Dominanz der Minderheit". Ein anderer schrieb, dass das Volk entschieden habe und der Spruch wäre doch eindeutig: "Man will nicht mehr, dass Linke und Grüne einen Einfluss auf die Bundespolitik haben." Beide Parteien wollten jetzt den Wähler austricksen und man kann nur hoffen, dass die GroKo den Willen des Volkes verteidige.
Das ist natürlich ein Witz. Die Anzahl der Wähler, die als ihren Willen an der Urne verbuchten, die Große Koalition zu verwirklichen, dürfte relativ gering gewesen sein. Wer so argumentiert, erfasst die Wählerschaft als einen geschlossenen Organismus und nicht als eine Gruppe, die soziologisch betrachtet völlig willkürlich zusammengesetzt ist und daher aus Interessenskonflikten heraus gar nicht gemeinsam agieren kann.
Noch etwas scheinen viele Leute nicht zu verstehen. Die Demokratie ist nicht als Unterdrückungsinstrument vorgesehen. Selbst eine absolute Mehrheit, wie die, die wir in diesem Lande jetzt haben, darf theoretisch nicht dazu benutzt werden, der Opposition den Garaus zu machen. Sie braucht Kontrolle und Überwachung. Es geht dabei auch gar nicht um die Verhältnisse, die die Wähler "geschaffen" haben. Geht es ohnehin nie, denn jede bisherige Konstellation im Bundestag war niemals ein Abbild des allgemeinen Wahlverhaltens (nicht berücksichtige Nichtwähler, Wähler von Splitterparteien, Ausgleichsmandate etc.). Eine wehrhafte Demokratie braucht den Ausgleich über das Wahlresultat hinaus. Wer etwas anderes für richtig erachtet, der vertritt wohl auch die Ansicht, dass es sowas wie eine legitime Diktatur geben darf und sollte, wenn sie nur aus freien Wahlen hervorgegangen ist.
Aber das passt zum Demokratieverständnis vieler Deutscher. Sie wollen eine straffe Demokratie, eine, die nicht erst viel plaudert und abklärt, sondern gleich agieren kann (Schlagzeile nach der Regierungsbildung: "Und jetzt regiert los!"), weil sie die Potenz dazu hat. Das was vielen Leuten offenbar vorschwebt, ist so ein Zwischending zwischen demokratischen Anstrich und softer Diktatur auf Grundlage wirtschaftlicher Interessen. Crouch hat das Postdemokratie genannt, wobei da das diktatorische Ungestüm leider nicht terminologisch durchschlägt. Die Postdemokratie ist jedoch eine Praediktatur. Bei einem Demokratieverständnis, nach dem man die Opposition quasi mundtot machen darf, wenn sie nur klein genug ist gegenüber der Regierung, gilt das sowieso.
Wir wählen die Freiheit, hat Adenauer damals gesagt, als er sich nach Westen orientierte. Heute lungert mancher Bürger am westlichen Ende seiner Couch herum und ruft: Wir können auch die Diktatur wählen, wenn uns danach ist. Dann legt er sich lang, guckt in die Fernsehzeitung und freut sich auf die Doku über die Machtergreifung, die gleich beginnt. Klar, das passiert uns nicht mehr. Kein Fackelmarsch durchs Brandenburger Tor mehr. Keine danach folgenden Wahlen, die die Ergreifung legitmieren. Das haben wir erledigt. Nur die Dummköpfe, die im Bus hinter dir sitzen und dieselbe Tendenz wie damals in neue Worte hüllen, die haben wir immer noch nicht erledigt.
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