“Junge Welt”, 12.02.2013
Polen: Explodierende Arbeitslosigkeit und unsoziale Politik verschärfen die Krise
Geld kann man nicht essen? In diesem Falle schon: Tusk vor einer Euro-Torte letzte Woche in Brüssel
Kurz nach dem Ende des Verhandlungspokers über den EU-Haushalt in Brüssel setzte im politischen Warschau der große Streit darüber ein, ob Polens Ministerpräsident Donald Tusk ein gutes Verhandlungsergebnis errungen habe. Der Premier bezeichnete den Abschluß als einen der »glücklichsten Tage meines Lebens« und erklärte, Polen sei der »größten Nutznießer der EU«. Die Opposition um die rechtskonservative Partei »Recht und Ordnung« (PiS) hielt dagegen, die »Zukunft der polnischen Landwirtschaft« sei nun bedroht, die Regierung habe nur das »absolute Minimum« in Brüssel ausgehandelt. Mittels eines Mißtrauensvotums, das die Opposition in der zweiten Februarhälfte durchführen will, soll der ohnehin wachsende Druck auf die Regierung Tusk verstärkt werden.
Dennoch wollen die Abgeordneten der PiS im Europaparlament für den EU-Haushaltskompromiß stimmen, was als Eingeständnis dafür gewertet werden darf, daß Tusk einen annehmbaren Deal ausgehandelt hat. Obwohl der Gesamthaushalt der EU in den Jahren 2014 bis 2020 schrumpfen soll, werden die für Polen vorgesehenen Mittel von 102 Milliarden Euro im auslaufenden Haushalt auf 105,8 Milliarden leicht ansteigen. Der polnische Kohäsionsfonds, aus dem Infrastrukturmaßnahmen und Arbeitsmarktprojekte finanziert werden, soll in den kommenden sieben Jahren 72,9 Milliarden Euro betragen, die Agrarhilfen summieren sich auf 28,5 Milliarden. Einzig die Kürzung der für Investitionen im ländlichen Raum vorgesehenen Gelder konnte die PiS öffentlich beklagen.
Diesen Verhandlungserfolg, der auf die enge Allianz zwischen Warschau und Berlin zurückgeführt werden muß (siehe jW vom 13.12.2011), hat der polnische Regierungschef mitsamt seiner rechtsliberalen »Bürgerplattform« (PO) derzeit auch bitter nötig. Die rasch zunehmende Arbeitslosigkeit in Polen und der wachsende Unmut über die offene Begünstigung finanzkräftiger Lobbygruppen bei ihrer Gesetzgebung lassen seine Popularitätswerte rasch in den Keller fallen. Nur noch 28,3 Prozent aller Umfrageteilnehmer würden jüngsten Ergebnissen zufolge der PO noch ihre Stimme geben. Damit zieht die konservative Opposition mit einem Zuspruch von rund 28,5 Prozent erstmals seit langer Zeit an der Regierung vorbei. Tusk reagierte auf diese Erosion des Wählerzuspruchs mit der Ankündigung einer großangelegten Rundreise durch Polen, bei der er den Menschen und ihren Problemen »näherkommen« wolle.
Indes bräuchte der Ministerpräsident nur bei seinem Arbeitsministerium vorbeizuschauen, um einen Eindruck von den Problemen zu bekommen, mit denen sich immer mehr Polen konfrontiert sehen. Die offizielle Arbeitslosenquote ist im vergangenen Januar auf 14,2 Prozent geklettert, allein gegenüber dem Vormonat stieg die Erwerbslosigkeit um 0,8 Prozent. Aufgrund der lockeren Kündigungsbestimmungen im polnischen Arbeitsrecht schwillt das Heer der Arbeitslosen schnell an. Besonders betroffen sind Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren, bei denen die Erwerbslosenquote bereits bei 28,4 Prozent liegt. Die gegenwärtige Krise revidiert somit die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt, die im Zuge des EU-Beitritts Polens eintrat, als mehr als eine Million Arbeitsemigranten das Land in Richtung Westen verließen und die Arbeitslosenquote hierdurch von mehr als 20 Prozent auf zeitweise weniger als zehn Prozentpunkte sank.
Der Unmut über die Regierung Tusk wird zusätzlich angeheizt durch ihre Politik, die ausschließlich die Interessen der Wohlhabenden und Kapitaleigner begünstigt. Berüchtigt ist etwa das neue, neofeudal anmutende polnische Schuldenrecht, das Gerichtsverfahren ohne Benachrichtigung der Kreditnehmer erlaubt und Gefängnisstrafen für säumige Schuldner vorsieht. Eine landesweite Welle der Empörung löste etwa die Verhaftung einer mit wenigen hundert Euro verschuldeten alleinerziehenden Mutter aus, deren Kinder dann in ein Kinderheim abgeschoben wurden. Derzeit plant die Regierung Tusk zudem, die Autoindustrie zu beglücken und neue Vorschriften einzuführen, durch die viele der älteren Autos aus Polens Straßenbild verdrängt werden sollen, mit denen ärmere Bürger noch ein Mindestmaß an Mobilität aufrechterhalten können.