Die Reihen bunter Fähnchen, die dicht an dicht über dem Mecidiyeköy-Platz flattern, sind recht hübsch anzusehen. Der ansonsten eher graue und trostlose Ort ist plötzlich bunt und schön, und ich komme mir vor, als würde ich auf einen Kindergeburtstag gehen anstatt zur Arbeit. Auf einigen Fähnchen blinkt die AKP-Glühbirne, und der dazugehörige Wahldesinformationswagen steht bereit, die Bürger Istanbuls mit überlauter Musik für die Regierungspartei zu gewinnen. Auch die DSP, die so genannte "Demokratische Linkspartei", hat sich nicht lumpen lassen, und die SP, die "Partei der Glückseligkeit", die als wichtiger politischer Arm eines Teils der in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachteten Milli Görüs-Bewegung gilt, lässt ein übergroßes Banner mit ihrer Kandidatin über der Hauptstraße wehen. Mecidiyeköy sieht aus wie ein Zirkuszelt.
"Die meisten Türken sprechen ja auch nur vom 'Zirkus', wenn sie über die Wahl reden," sagt mein Arbeitskollege Frank. Wenn ich von unserer Kantine aus auf die Straße schaue, bietet sich mir das gleiche Bild wie in Mecidiyeköy, nur mit anderen Parteien. Hier hat die ultranationalistische MHP, die "Partei der Nationalistischen Bewegung", ihren grinsenden Kandidaten in Überlebensgröße über der Straße hängen, und die "Republikanische Volkspartei" CHP, die mehr oder minder schlecht eine sozialdemokratische Ausrichtung vorzugeben versucht, hat ihre Fähnchen kreuz und quer zwischen den Häusern gespannt. Immer wieder fahren Wahlversprechen quäkende Minibusse die Straße auf und ab und trompeten ihre Slogans durch Nisantasi. Ich muss an Karin denken, die einmal sagte: "Ich glaube, jeder Türke bekommt zum achtzehnten Geburtstag ein Megafon geschenkt, und dann machen sie nur noch Lärm den ganzen Tag."
Mir gefällt dieses Theater. Diesen Monat werden in der Türkei Bürgermeister und Stadträte gewählt, und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verteilt Kühlschränke in Anatolien. Gerade an dieser Figur scheiden sich besonders die Meinungen, und wie so oft gibt es zwischen Schwarz und Weiß fast kein Grau. Während ihn seine Anhänger in den Arbeitervororten Istanbuls und ein Teil der aufstrebenden religiös-konservativen Mittelklasse nach dem Eklat in Davos zum neuen Sultan stilisierten, gilt er den modernen, (ver)westlich(t)en Türken als die Bedrohung der Republik Atatürkscher Prägung schlechthin. So erzählt mir die durchgestylte Dilek, dass die AKP nicht nur Atatürks Prinzipien infrage stellt (was dem Land nach über achtzig Jahren vielleicht gar nicht mal schlecht tut), nein, sie plant einen islamistischen Umsturz nach dem Vorbild Irans. "Allein auf den neuen Geldscheinen kann man schon sehen, dass die AKP die Republik zerstören will," sagt Dilek. "Auf dem fünfzig-Lira-Schein ist hinten eine Frau abgebildet, die Atatürk gehasst hat. Siehst du?"
Ich sehe das zwar, aber nicht als Beweis. Und ich habe keine Ahnung, wer Fatma Aliye ist, genausowenig wie die meisten anderen Leute, die ich danach frage. Aber gehört hat sie jeder, diese Theorie von der Atatürk hassenden Frau auf der Rückseite der 50-Lira-Note. Ob sie ihn wirklich hasste, ist für mich nicht nachvollziehbar, aber zumindest finde ich heraus, dass sie als erste weibliche Autorin des Osmanischen Reiches gilt, gleichzeitig aber eine sehr umstrittene Figur war und insbesondere Verfechtern von Frauenrechten ein rotes Tuch ist. Jetzt ist sie auch noch Ikone der Islamisierungsbestrebungen der AKP.
Ein Artikel, der in der letzten Ausgabe des Middle East Quarterly erschienen ist, schlägt in dieselbe Kerbe und zeichnet ein Doomsday-Szenario erschreckenden Ausmaßes: die angeblich engen Verbindungen zwischen der AKP und dem Gülen-Imperium werden als Ausgangspunkt genommen für die Vision eines islamistischen türkischen Staates nach dem Schnittmuster Iran. Das politische Magazin ist eine intellektuelle Plattform der amerikanischen Neocons.
Den Europäern wird landläufig immer wieder vorgeworfen, sie würden die von der AKP ausgehende Gefahr unterschätzen, den "Wolf im Schafspelz" Erdogan falsch einschätzen. Mag sein, dass der AKP lange Zeit mit allzu großem Wohlwollen begegnet wurde. Aber den Kredit, den sich der türkische Ministerpräsident mit den anfänglichen Demokratisierungsschritten bei den europäischen Regierungen und der EU erwirtschaftet hatte, ist aufgebraucht. Ohne ihm islamistische Revolutionsbestrebungen vorzuwerfen, wird Erdogan, der sich in letzter Zeit nicht gerade als lupenreiner Demokrat einen Namen gemacht hat, mit Vorbehalten begegnet.
Derweil geht der Zirkus seinen gewohnten Gang, und der einzige Türke, der mir dieser Tage vernünftig vorkommt, ist mein Türkischlehrer Zeki. "Die meisten denken, die AKP sei das größte Problem der Türkei", sagt er. "Das ist Quatsch, die AKP ist kein echtes Problem, und auch die Wirtschaftskrise nicht, die Türkei ist schließlich schon seit 2001 in der Krise. Nein, das Problem der Türkei ist die Demokratie - die funktioniert hier nämlich hinten und vorn nicht."