Türkischer Frühling

Berlin_Istanbul17Seit dem ver­gan­ge­nen Wochenende berich­ten auch deutsch­spra­chige Medien mehr oder weni­ger – meist weni­ger – über die Revolten in der Türkei. Dort pro­tes­tiert trotz Informationssperre ein gro­ßer Teil der Bevölkerung gegen die schlei­chende Islamisierung der Gesellschaft unter Premier Tayyip Erdogan.

Der vor­letzte Tropfen Öl war die Verschärfung des Alkoholverbotes, den die Regierung unter Erdogan durch­set­zen will. Der aller­letzte dann, an dem sich die aktu­elle Revolte ent­zün­dete, der schon lange umstrit­tene Plan, den Gezi-Park, eine Grünanlage im Herzen Istanbuls, einem Einkaufszentrum zu opfern. Als einige wenige Menschen diese besetz­ten, griff zu Polizei zu unver­hält­nis­mä­ßig bru­ta­len Maßnahmen. Mit Tränengas, Wasserwerfern und Schlagstöcken wurde gegen die Protestierenden vor­ge­gan­gen. Es soll allein am ver­gan­ge­nen Wochenende zu fast ein­tau­send Verhaftungen gekom­men sein.

Von nun an kippte die Stimmung im Lande. Erdogan – immer­hin mit fast 50 Prozent der Stimmen bei der letz­ten Wahl demo­kra­tisch gewählt – schlug eine Welle der Ablehnung ent­ge­gen. Zehntausende waren es, die am Tag dar­auf auf die Straßen gin­gen. Nicht nur in Instanbul, son­dern auch in ande­ren gro­ßen Metropolen des Landes. Und das trotz des Versuches, die Aufstände in den tür­ki­schen Medien tot­zu­schwei­gen und die sozia­len Netzwerke zu blo­ckie­ren. Die Türkei wird nicht umsonst von den “Reportern ohne Grenzen” auf Platz 154 ihrer Rangliste zur welt­wei­ten Pressefreiheit geführt.

Bis zum gest­ri­gen Montag hat ein ein­zi­ger staat­li­cher Sender dar­über berich­tet, dass in Istanbul, Ankara und Izmir die Menschen sich mit der Polizei Strassenschlachten lie­fern. Selbst der tür­ki­sche Zweig von CNN zeigte eine Reportage über Pinguine als sein eng­lisch­spra­chi­ges Pendant Bilder aus Istanbul sen­dete. Als die BBC live vom Taksim-Platz sen­dete hielt Erdogan im staat­li­chen Fernsehen eine Rede, bei der er über Raucher her­zog.

Trotzdem ver­sam­meln sich die Menschen immer wie­der. Sie ver­ab­re­den sich über die sozia­len Netzwerke wie Twitter und Facebook; tau­schen sich dort aus und pos­ten Fotos und Handyvideos. Allerdings kön­nen diese Fotos oft nicht geprüft wer­den und so tau­chen auch immer wie­der Bilder auf, die nicht aktu­ell sind. So zum Beispiel eines, das Menschenmassen auf einer der Bosporusbrücken zeigt, die pro­tes­tie­ren sol­len. In Wahrheit ist das ein Bild des Istanbul-Marathons des ver­gan­ge­nen Jahres. Einen guten Einblick über diese Entwicklung zeigt der Twitter-Account des in Köln leben­den Türken Ali Utlu; der seit Tagen tür­ki­sche Meldungen ins Deutsche über­setzt und umge­kehrt.

Fotos zei­gen, wie über der Innenstadt von Istanbul dicke Rauchschwaden aus Tränengas zie­hen. Dieses Gas ist gelb­lich – und führte dazu, dass einige Meldungen davon spra­chen, dass hier das Nervengas “Agent Orange” ein­ge­setzt wird. Was sich eben­falls als starke Über­trei­bung her­aus­stellte. Zwar ist das Tränengas ver­mut­lich äußerst aggres­siv, wie Opfer berich­te­ten, aber kein Giftgas.

Berlin_Istanbul_titelEs wer­den Fotos ver­schickt, die die Opfer der als “rasend” beschrie­be­nen Gewalt des Staates zei­gen: Menschen mit schwe­ren Verletzungen. Es soll auch bereits Tote zu bekla­gen sein; von offi­zi­el­ler Seite (natür­lich) nicht bestä­tigt. Denn offi­zi­ell fin­det der Aufstand nicht statt. Erdogan zeigt hier die typi­sche Reaktion eines Diktatoren: er will nicht begrei­fen, dass sich die Aufstände inzwi­schen nicht mehr gegen die Pläne zur Bebauung der Grünanlage in der Nähe des Taksim-Platzes rich­ten. Sondern gegen seine Politik der schlei­chen­den Islamisierung der Gesellschaft. So hält er nicht seine Politik, son­dern “Twitter für eine Plage“.

Erdogan droht, den Geheimdienst auf die Drahtzieher des Aufstands anset­zen zu wol­len. Auch das zeigt, wie wenig er ver­stan­den hat, dass es sich bei den Revolten um eine Massenbwegung aus dem Volk han­delt – und nicht um einen von eini­gen “ange­zet­tel­ten” Aufstand.

Manche Kommentatoren spre­chen bereits von einem “Türkischen Frühling”. Ob sich das bewahr­hei­ten wird, wer­den die kom­men­den Tage zei­gen. Bisher rühmte sich die Türkei, die isla­mi­sche Vorzeigedemokratie zu sein. Diese Demokratie steht jetzt vor der Bewährung. Denn es ist noch nicht klar, wohin die Reise geht.

Bei einer der Berliner Solidaritätsdemonstrationen am ver­gan­ge­nen Wochenende konnte man den Eindruck gewin­nen, dass es vor allem die säku­la­ren Menschen sind, die auf die Straße gehen. Diesen Eindruck bestä­ti­gen auch Stimmen aus der Türkei. Ob diese Bewegung jedoch nicht im Laufe der Zeit – ähn­lich wie beim “ara­bi­schen Frühling” – von isla­mi­schen Gruppierungen für sich genutzt wird, ist noch nicht abzu­se­hen.

Bisher jedoch bleibt der Eindruck, dass sich eine Bevölkerung gegen seine Regierung zur Wehr setzt. Ein Eindruck, der auch nach den Wahlen 2009 im Iran ent­stand. Es gibt einige Parallelen: so habe sich damals viele Exil-Iraner und Künstler mit den Protestierenden soli­da­risch erklärt. Heute soli­da­ri­sie­ren sich Künstler aus der Türkei bei der Biennale mit den Protestierenden in Istanbul und in vie­len euro­päi­schen Städten – auch in Berlin – gab und gibt es Solidaritätskundgebungen.

Nic


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