Erdogans TV-Reflexion über einen Beitritt der Türkei zur SCO hat den Generalsekretär des Europa-Rates, den Norweger Thorbjørn Jagland, einen überzeugten Verfechter einer Türkei in der EU, auf den Plan gerufen.
Er sagte in einem Exklusiv-Interview mit Today’s Zaman, dass ein solcher Wechsel Sorgen in der EU hervorrufen müsse. Er habe schon bei seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedens-Nobel-Preises an die EU auf die Gefahr durch den festgefahrenen Beitrittsprozess hingewiesen.
Der Europa-Rat ist nicht die EU. Er ist ein weit größeres Gremium aus 47 Ländern, dem seit 1949 die Türkei, aber auch Russland angehören.
Jagland hebt die gewachsene Rolle der Türkei auf europäischer und globaler Ebene hervor und sieht hierbei durchaus auch einen Verdienst der EU, ohne deren Reformforderungen es weder einen politischen noch ökonomischen Wechsel dieser Stärke in der Türkei gegeben hätte.
http://www.todayszaman.com/news-305513-jagland-if-turkey-serious-about-sco-both-coe-and-eu-should-be-worried.html
Sedat Ergin fragt in einem Kommentar der Hurriyet Daily News ob es Erdogan mit seiner SCO-Bemerkung Ernst gewesen sei. Er stellt fest, dass Erdogan diese Karte erstmals scherzhaft Ende November letzten Jahres in Berlin spielte.
Wie es scheine, sei der Spaß jetzt aber vorbei und Erdogan meine es durchaus Ernst mit seiner Wechsel-Option zur SCO.
China, Russland, Kasachstan, Kirgisien, Tatschikistan und Usbekistan, der Sechser-Kern der SCO, verstärkt um die Beobachter-Länder Afghanistan, Mongolei, Iran, Indien und Pakistan, versuchen gemeinsame Strukturen aufzubauen in Verteidigung, Sicherheit und Wirtschaft.
Die Türkei hat seit vergangenen Sommer den Status eines Dialog-Partners, wie zum Beispiel auch Weiss-Russland und Sri Lanka.
Um den Realismus eines solchen Paradigmenwechsel einzuschätzen müsste man sich die ökonomischen Daten der Türkei ansehen. Welche Produkte exportiert sie in die EU und die Welt? Welche Dinge importiert sie? Könnte sie ihre Exportgüter auch in die SCO-Staaten und Märkte exportieren oder sind die dort bereits billiger und besser zu haben?
Der Schwedische Außenminister Carl Bildt, ein starker Befürworter eines türkischen EU-Beitritts, sagte als Gastredner auf einer Konferenz der türkischen Botschafter Anfang Januar 2013 in Izmir, dass es keine Automatismen gäbe. Nichts sei gegeben, nichts sei sicher im Leben. Er bezog sich auf den festgefahrenen Beitrittsprozess der Türkei zur EU, von dessen 35 Verhandlungskapiteln nur ein gutes Drittel von 13 Kapiteln (13/37 = 37% !) überhaupt erst eröffnet worden und davon lediglich eines (1/35 = 2,8% !) zum Abschluss gebracht worden sei. Es bedürfe Anstrengungen von beiden Seiten sagte Bildt an die Adresse seiner türkischen Zuhörer. Das gelte für die türkische Haltung zur Zypern Frage ebenso wie für die französischen Haltung zu einer türkischen EU-Mitgliedschaft.
Sedat Ergin analysiert die gemeinsamen Erklärungen der EU-Außenminister und der 27 EU-Länder zur Frage des Beitrittskandidaten Türkei und stellt deutliche Ernüchterung, Enttäuschung, Sorge und Kritik der Europäer im Vergleich zu den entsprechenden Texten aus den Vorjahren fest. Diese wurden erstmals so deutlich als gemeinsame Position der 27 EU-Länder formuliert.
http://www.hurriyetdailynews.com/strong-warning-to-turkey-from-eu-summit.aspx?pageID=449&nID=36892&NewsCatID=428
Der Türkische Umwelt- und Städtebau-Minister Erdoğan Bayraktar spricht den 2,5 Milliarden Christen auf der Welt den Status einer Religion ab und erklärt das Christentum statt dessen zu einer „Kultur“! Deshalb wollten sie (die Christen) den Islam auch zu einer „Kultur“ machen. Aber das sei es nicht, was eine Religion ausmache. Eine Religion erziehe, sei eine Lebensform und gäbe Frieden und Zufriedenheit.
http://www.hurriyetdailynews.com/christianity-no-longer-a-religion-says-turkish-minister.aspx?PageID=238&NID=38021&NewsCatID=393
Burak Bekdil zieht einen Vergleich vom Nationen-Erbauer Mustafa Kemal Atatürk, der vor hundert Jahren den modernen, nationalen, säkulären, westlich orientierten Türken formte und dabei bis in die Details der Erziehung, der Kleidung und der Musik eingriff, mit Recep Tayip Erdogan, der heute etwas ähnliches praktiziert und einen klar islamischen Türken propagiert, dem er bis zu Ess- und Trinkgewohnheiten und Anzahl und Art des Kinder kriegens Vorschriften macht.
Dabei baut er durchaus auf dem nationalen Bild Atatürks von der türkischen Überlegenheit auf, die alle Stärke in ihrem Blut, also sozusagen in den Genen hätte. Sie seien die edlen Urenkel der Seldschuken und Ottomanen.
Sein „Krawallminister“, EU Minister Egemen Bağış, interpretiert die Alternative zu Erdogans Türkenbild als Alkoholiker und drogenabhängige Atheisten! Dazwischen gibt es bei ihm anscheinend nichts?
Sie faseln von einer devoten, hingebungsvollen muslimischen Jugend für die beiden erwähnenswerten Eckdaten 2023 und 2071. Das erste ist der einhundertste Jahrestag der türkischen Republik und das zweite ist der eintausendste Jahrestag der türkischen Invasion in Anatolien.
Solche Ansichten könne sich vielleicht ein Taxifahrer leisten aber keine verantwortlichen Politiker eines Landes im 21. Jahrhundert.
Das in London sitzende Legatum Institute, eine unabhängige, unparteiliche Organisation, die sich globalem Wohlstand und menschlicher Freiheit widmet, hat in ihrem jüngsten Ranking die Türkei wie folgt eingeordnet:
Insgesamt liege die Türkei auf dem 89. von 142 Ländern dieser Welt, das heisst beinahe im letzten Drittel. Bei der Erziehung auf Rang 91/142. Bei Sicherheit auf Rang 93/142. Bei der individuellen Freiheit auf Rang 127/142. Bei sozialem Kapital auf Rang 133/142! (Die positiveren Rankings führt er hier leider nicht auf, aber es muss sie geben, denn sonst könnte die Gesamtwertung nicht besser sein, als alle hier genannten Einzel-Rankings!)
Burak Bekdil folgert daraus humorvoll, dass die Türkei offenbar immer noch aus drogenabhängigen, atheistischen Alkoholikern bestünde…
http://www.hurriyetdailynews.com/erdogans-nation-rebuilding.aspx?pageID=449&nID=40078&NewsCatID=398