Tunesien oder die Qual der Wahl

In Tunesien wird jetzt alles gut, denn die Leute dürfen endlich wählen! Man weiß ja bereits aus Irak und Afghanistan, dass Manna vom Himmel regnet, sobald die Leute an die Wahlurne dürfen, und dass sie vor lauter Glück über ihre neue Freiheit aufhören, ihre Besatzer und sich gegenseitig umzubringen. Außerdem geschieht umgehend das eine oder andere Wirtschaftswunder, alle werden satt und gesund und selbst Mädchen dürfen in die Schule.

Dumm nur, dass die noch nicht so richtig mündigen Bürger Tunesiens möglicherweise die falsche Partei wählen könnten. Die islamistische Partei Ennahda könnte die stärkste Kraft im Land werden – das ist natürlich nicht das, was sich die westlichen Superdemokraten, die so eilfertig den Sturz des tunesischen Staatschefs Ben Ali gefeiert haben, für ihr Ferienparadis Tunesien so vorgestellt haben. Es erinnert fatal an Algerien: Dort kam es 1991 zu einem langwierigen und blutigen Bürgerkrieg, nach dem die Algerier bei den Parlamentswahlen mehrheitlich für die Islamische Heilsfront gestimmt hatten – weshalb die etablierte algerische Regierung die Wahl umgehend annullierte.

Für religionsskeptische Menschen wie mich ist das natürlich schwer zu ertragen, aber wenn man den Leuten schon die Wahl lässt, und sie ihr Wahlrecht nutzen, um zu wählen, was sie für richtig halten, muss man das Ergebnis akzeptieren. Auch wenn das den bisherigen Machthabern und dem westlichen Ausland nicht passt. Man sollte sich da nichts vormachen: Ob nun die Kapitalisten („freie Marktwirtschaft“) das Sagen haben oder die Islamisten, angenehm wird es für die Leute in keinem Fall.

In dem Zusammenhang muss auch gesehen werden, dass durch die Politik von Präsident Chadli Bendjedid, der beispielsweise nach westlichem Vorbild die vielgepriesene Marktwirtschaft in Algerien vorangetrieben hatten, die sozialen Ungleichheiten stark zugenommen hatten und es Ende der 80er Jahre zu Aufständen in den Elendsvierteln kam, an denen sich Schüler und Arbeitslose Jugendliche beteiligten. (Ähnliches war vor kurzer Zeit auch in London zu beobachten.) Daraufhin wurde überhaupt erst ein Mehrparteiensystem in Algerien eingeführt.

Nachdem das undankbare Volk sich aber so dermaßen verwählt hatte, versank Algerien Anfang der 90er Jahre im Bürgerkrieg. Jetzt gibt es formal Demokratie und so weiter, was natürlich als Fortschritt gegenüber dem algerischen Sozialismus angesehen wird, der nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1962 von der regierenden Einheitspartei Front de Libération Nationale (FLN) eingeführt wurde. Die Annäherung an den Westen in den 70er Jahren führte aber zu den sozialen Problemen, die in den 80ern dann zu den Aufständen führten.

Algerien ist zwar eins der reicheren Länder Afrikas, den Leuten geht es aber nicht besonders gut, insbesondere die jungen Leute leiden unter der hohen Arbeitslosigkeit – dieses Schicksal teilen sie mit so vielen anderen Mittelmeerstaaten. Gerade die freie Marktwirtschaft und mehr Demokratie hat auch hier nicht die Lösung gebracht, sondern die Probleme verschärft. Insofern ist es wirklich bemerkenswert, dass überall (Tunesien, Ägypten, Libyen usw.) weiterhin daran geglaubt wird, dass mit mehr Demokratie und noch freierer Marktwirtschaft alles besser würde.

Bislang wurde immer nur das Gegenteil bewiesen: Mehr Demokratie bringt mehr Konflikte, insbesondere, wenn religiösen Bewegungen eine Rolle spielen, die man im Westen eigentlich nicht so gern sieht, mehr freier Markt bringt mehr Konkurrenzdruck, schlechtere Lebensbedingungen und mehr Arbeitslose – Arbeitsplätze entstehen in der globalisierten Welt nun einmal dort, wo die Leute noch bereit sind, sich fürs Existenzminimum zu Tode zu schuften. Warum gibt Nokia seinen Standort in Rumänien auf? Weil die Rumänen nicht mehr für einen Hungerlohn arbeiten wollen. Sogar China wird den Produzenten inzwischen zu teuer las ich neulich. Und warum sollten die gut ausgebildeten Nordafrikaner, die dank des Ölreichtums ihrer Länder einen relativ hohen Lebensstandard gewöhnt waren, nun mit den Hungerleidern in Südostasien oder Schwarzafrika konkurrieren wollen? Aus dem gleichen Grund, aus dem wir Mitteleuropäer das auch nicht wollen. Die Frage ist, ob uns unsere Demokratie und die freie Marktwirtschaft langfristig davor schützen werden. Die Antwort lautet leider: Werden sie nicht. Egal, wen wir wählen. Und das werden die Tunesier vermutlich deutlich schneller lernen als wir.



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