Tu quoque!

Tu quoque! von Thomas Baader

"Als Tu-quoque-Argument (lateinisch tu quoque ‚auch du‘) wird der argumentative Versuch bezeichnet, eine gegnerische Position durch einen Vergleich mit dem gegnerischen Verhalten zurückzuweisen. Es kann als Variante des Argumentum ad homine verstanden werden und kommt insbesondere gegen moralische Bewertungen oder Vorschriften zum Einsatz. Auch die Verteidigung bei den Nürnberger Prozessen gebrauchte das Argument (siehe dort Abschnitt „Tu-quoque-Argumentation“)."
Soweit Wikipedia. Es ist exakt dieses Argumentationsmuster, dessen sich die Grünen gerade bedienen. Konfrontiert mit ihrer eigenen Haltung zu Sex mit Kindern in der Vergangenheit verweisen sie trotzig darauf: Ja, aber die Union hat auch etwas falsch gemacht, nämlich zu lang an der Vorstellung festgehalten, dass es in der Ehe keine Vergewaltigung geben könne und dass Kindern eine Ohrfeige hin und wieder gut tut. Der Unterschied ist freilich: Das leider of zu langsame Lösen von falschen Moralvorstellungen ist etwas völlig anderes als der Versuch, falsche Moralvorstellungen neu einzuführen. Mit ihrer Haltung zur Züchtigung von Kindern etwa befand sich die Union damals durchaus im europäischen Mainstream. Nicht, dass das an der Sache irgendetwas besser machen würde. Prügel als Mittel der Erziehung sind bei uns zu Recht geächtet worden. Hier ist es in der Tat ein Verdienst jener zu nennen, die an dieser Entwicklung mitgewirkt haben. Aber Menschen lösen sich oft nur schwer von Gewohnheiten, mit denen sie als "normal" aufgewachsen sind. In vielen unserer europäischen Nachbarländer wird Eltern übrigens noch immer eine gesetzliches Züchtigungsrecht zugestanden. Um aber jetzt an dieser Stelle nicht selbst in eine Variation von "tu quoque" zu verfallen, ist es nötig darauf zu verweisen, dass wir uns im Vergleich an den Besten und nicht an den Schlechtesten orientieren sollten. Die Grünen sollten das auch. Ein "Du hast doch aber auch..." ist also in der Tat wenig geeignet, um die Grünen zu entlasten. Aber es gibt auch Argumente anderer Art: Es ist mehr als 30 Jahre her, hören wir da. Gut, aber das war Schavans Doktorarbeit auch. Und wer erinnert sich nicht an Jürgen Trittin, wie er mit schlecht gespielter Empörung im Bundestag zeterte: "Entlassen Sie Herrn zu Guttenberg". Ist es verkehrt, jetzt darauf hinzuweisen? Es wäre falsch, den Kritikern der Grünen hier selbst eine "Tu quoque"-Argumentation vorzuwerfen - nicht, wenn es darum geht, daran zu erinnern, wo die Messlatte für angebrachte Rücktrittforderungen liegt. Im Falle der FDP sollten schließlich sogar schlüpfrige Herrenwitze ausreichen, wenn es nach den Grünen gegangen wäre. Ebenfalls wird gerne zur Entlastung die Behauptung bemüht: Der Zeitgeist sei damals so gewesen. Sicherlich war er das, aber doch nur der Zeitgeist in manchen Milieus. Ja, auch bei (linksliberalen) Teilen der FDP, der Humanistischen Union, der GEW und sogar beim Kinderschutzbund gab es die abwegige Vorstellung vom einvernehmlichen Sex zwischen Kind und Erwachsenem. Dennoch ist die Propagierung von Sex mit Kindern nicht einfach ein reines Zeitgeistphänomen, das die Gesellschaft erfasst hätte - erfasst war stets nur ein ganz bestimmtes Umfeld, das zu Recht heute aufgefordert wird, diese Vergangenheit aufzuarbeiten. Jenseits der genannten Gruppierungen wurde die damalige Gesellschaft nicht infiziert von Abirrungen in pädophile Abgründe. Ein drittes der Ablenkung dienendes Argument kommt aus dem Bereich der Verschwörungstheorien: Demnach sei ein Kampagne von dunklen Kräften gestartet worden, um die Grünen zu diskreditieren. Bloß: Wer hätte die Macht, eine solche Kampagne ins Leben zu rufen und sich der Mitwirkung von grünenfreundlichen Medien wie Zeit, SZ und taz zu sichern? Auch ist jener Wissenschaftler (Franz Walter), der mit seinen Erläuterungen die Grünen so kurz vor der Wahl in arge Probleme bringt, von den Grünen selbst beauftragt worden. Der Zeitpunkt, den er sich für seine Veröffentlichung gewählt hat, ist indes wiederholt kritisiert worden. Aber fragen wir uns doch lieber an dieser Stelle: Wie hätte es wohl ausgesehen, wenn dieser Experte eine Woche vor der Bundestagswahl belastendes Material auftut, es aber NICHT veröffentlicht, sondern lieber eine Woche wartet, um dann nach der Wahl seine Ergebnisse zu präsentieren? Exakt: Er hätte um seinen Ruf als seriöser Wissenschaftler fürchten müssen - sein Abwarten wäre zu Recht als Wahlkampfhilfe für die Grünen gedeutet worden. Gerade ein von den Grünen bezahlter Forscher muss peinlichst darauf achten, alles zu unterlassen, was den Eindruck erwecken könnte, er wäre ein gekaufter Gefälligkeitsgutachter. Welches Recht haben eigentlich Parteien, dass ihre Skandale von der Presse bitte erst nach der Wahl thematisiert werden? Natürlich gar keins. Was aber eigentlich ist der Vorwurf, dem sich die Grünen stellen müssen und der nicht durch das Eröffnen irgendwelcher unangebrachter Nebenkriegsschauplätze in Vergessenheit geraten darf? Es ist der Vorwurf, nicht beizeiten richtig sauber gemacht zu haben im eigenen Laden. Den Skandal kurz vor der Bundestagswahl hätte man sich sehr wohl ersparen können. Anlässe zur kritischen Aufarbeitung gab es genug. Statt dessen jedoch gab es zahlreiche Vorfälle, bei denen Vertreter der Grünen nicht gerade bewiesen, dass sie dem Thema Pädophilie mit besonderer Sensibilität begegneten. Jerzy Montag fiel im Jahre 2010 auch mit Formulierungen auf, die bei einer Partei mit missbrauchsfreundlicher Vergangenheit sehr gewagt wirken: Die Idee, die Verjährungsfristen für Kindesmissbrauch aufzuheben (es sei daran erinnert, dass es in anderen demokratischen Staaten solche Fristen gar nicht gibt), bezeichnete der grüne Rechtsexperte wörtlich als "fundamentalistische Rachsucht". Und auf Nachfrage konkretisierte er: "Hinter dem, der die Forderung aufstellt, für bestimmte Straftaten – außer Völkermord und Mord – jegliche Verjährungsfristen aufzuheben, vermute ich tatsächlich statt einer rationalen Kriminalitätspolitik eine Strafsucht, die in einem demokratischen Rechtsstaat nichts zu suchen hat." Der Leiter des Projekts "Tränenwald", Sven-Martin Barthold, schrieb daraufhin in einem offenen Brief an die Grünen: "Meine Arbeit zeigt mir deutlich, dass nicht Rache der Grund für eine Anzeige ist, sondern dass man nicht möchte, dass andere Kinder durch diese Person ebenfalls Missbrauch erleiden müssen ... Aus diesem Grund fordere ich eine öffentliche Entschuldigung und Rücknahme dieser Aussage von Herrn Jerzy Montag." Barthold wurde mit einem inhaltsleeren Standardschreiben als Antwort abgespeist. Im Jahr 2012 übrigens traten mehrere ehemalige Missbrauchsopfer in den Hungerstreik, um ihrer Forderung nach einer Aufhebung der Verjährungsfristen Ausdruck zu verleihen. Sind also tatsächlich, wie Montag meinte, all jene, die dieses Ziel verfolgen, fundamentalistisch, strafsüchtig und undemokratisch? Montags krude Thesen sind, zu Ende gedacht, nichts anderes als Opferbeschimpfung. Es ist völlig nachvollziehbar, dass die Opfer sexueller Gewalt den Wunsch verspüren, dass das, was ihnen angetan wurde, nicht ungesühnt bleibt. Die meisten von ihnen sind zwar gezeichnete, aber dennoch völlig rationale und gemäßigte Menschen. Radikale Ideen, wie die Einführung der Todesstrafe für Kinderschänder, finden bei ihnen keine Mehrheit. Sie haben lediglich den Wunsch, dass der Staat ein klares Zeichen setzt: Das, was dir angetan wurde, nimmt diese Gesellschaft nicht hin - es wird für den Täter nicht folgenlos bleiben. Was daran "fundamentalistisch" sein soll, wird wohl auf ewig Jerzy Montags Geheimnis bleiben.
 
Nun gibt es in jeder Partei irgendeinen, der ständig Unsinn daher redet. Gravierender ist jedoch, dass niemand in der grünen Partei Montag zurückgepfiffen hat. Die eigene Haltung zu Kindesmissbrauch zu überdenken - dazu wäre im Jahr 2010 auch die Gelegenheit gewesen. Sie wurde nicht genutzt, und jetzt passiert es eben im Superwahljahr 2013. Der Grünen-Politiker Jörg Rupp wiederum bezeichnete im April 2012 Versuche, Kinder im Internet zu schützen, als die "alte Kinderpornoleier". Von den anschließenden Protesten zahlreicher Missbrauchsinitiativen zeigte er sich eher unbeeindruckt. Sina Doughan, Sprecherin der Grünen Jugend, nannte zuletzt Forderungen nach einer Telefonhotline für Betroffene "wahnsinnig lächerlich". Missbrauchs-Zeitzeugen kämen jetzt zur Unzeit aus "allen Ecken gekrochen". Doughan selbst ist indes kein unbeschriebenes Blatt: Aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der "Roten Hilfe", einer linksextremen Vereinigung, die ehemalige RAF- und Stasi-Täter unterstützt, gilt sie selbst als umstritten. Die Grüne Jugend tritt zudem offen für eine Aufhebung des Inzestverbots ein. Inzest zwischen Erwachsenen, wohlgemerkt. Ist aber denn tatsächlich Geschlechtsverkehr zwischen einem Mann und seiner achtzehnjährigen Tochter völlig unproblematisch? Größere Abhängigkeitsverhältnisse als jene, die innerhalb einer Familie vorherrschen, dürfte es wohl kaum geben. Nun die jüngsten Enwicklungen: Dem Trittin-Skandal folgt die Entdeckung, das Volker Beck viele Jahre lang die Öffentlichkeit belogen hat: Stets hatte er betont, dass ein Text, der ihm zuzuordnen ist und in dem Sex mit Kindern propagiert wurde, im Nachhinein vom Herausgeber verfälscht worden ist. SPIEGEL-Recherchen kommen jedoch zu dem Schluss, dass in den beanstandeten, d. h. den wesentlichen Punkten Becks Manuskript und der veröffentlichte Text identisch sind. Man wird abwarten müssen, welche weiteren Entwicklungen uns hier bevorstehen. Was heißt nun eigentlich, eine Debatte findet "zur Unzeit" statt (d. h. zu Wahlkampfzeiten)? Versuche, die Debatte zu anderen Zeiten zu führen, gab es zahlreiche, sie wurden aber immer von den Grünen stets abgeblockt. Und irgendwo in Deutschland ist bekanntlich immer Wahlkampf. Und was ist mit den Konsequenzen? Eine FDP-Politikerin, die im Alter von neunzehn Jahren einen Pädophilie befürwortenden Text geschrieben hat, hat umgehend reagiert und ist von ihrem Amt zurückgetreten. Rücktritte von Cohn-Bendit, Montag, Rupp, Doughan, Trittin oder Beck? Bislang Fehlanzeige. Hier aber böte sich eine neue Form des "Tu quoque" an, eine Variante des Anstandes, eine Verkehrung eines oft zweifelhaften Argumentationsmusters in eine positive Orientierung an Vorbildern: Du, FDP-Frau, bist zurückgetreten? Ich tue es jetzt auch!
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