Trostloses Aufbegehren und die Verrücktheit eines Wasserhuhns

Trostloses Aufbegehren und die Verrücktheit eines Wasserhuhns

Rien n´aura eu lieu (c) Franck Beloncle

Im Jänner standen zwei sehr unterschiedliche Produktionen der École du Tns, der staatlichen Schauspielschule des Théâtre national de Strasbourg,  auf dem Spielplan. Die Studentinnen und Studenten des 3. Jahrganges der Gruppe 39 zeigten ihr Können in einer Inszenierung des Stückes „Das Wasserhuhn“ (La poule d´eau) von Stanislaw Ignacy Witkiewicz sowie in „Nichts wird passiert sein“ ( Rien n´aura eu lieu) von Kévin Keiss, einem Dramaturgiestudenten. Letzteres entstand, nachdem die Studierenden den Text „Fuenteovejuna“ des spanischen Schriftstellers Lope de Vega gelesen hatten, der das Stück zwischen 1612 und 1614 geschrieben hatte. Darin ging es um den Aufstand eines Dorfes, welches sich gemeinsam zum Mord an einem Befehlshaber bekannte und aufgrund der Unmöglichkeit, einen Einzelnen für die Tat verantwortlich machen zu können, nicht verurteilt werden konnte.

Keiss gelang es zwar das Geschehen umzuinterpretieren und in die Neuzeit zu verfrachten, allerdings hätte sein Text ohne Weiteres einige Kürzungen vertragen. Es wird wohl die allzugroße Voraussehbarkeit der Handlung gewesen sein, in welcher er nicht mit Stereotypen und Klischees sparte, welche den Abend streckenweise recht lange erscheinen ließen. Zum anderen sparte die Regie von Amélie Enon nicht mit Trockennebel, der während der gesamten Vorstellung den Theaterraum einhüllte und zu so manchem Hustenreiz führte. Die Anstrengung, die Personen im hinteren Bühnenteil noch zu erkennen, wirkte sicherlich zusätzlich konzentrationsmindernd, ein klein wenig weniger wäre hier einfach mehr gewesen. Was es zu kritisieren gab, ist hiermit geschehen, der Rest jedoch war gutes und intelligentes Theater, aufgeführt von jungen Leuten, die, jeder für sich, ihre Stärken zeigen konnten. Das Bühnenbild von Maxime Kurvers kann als voll und ganz gelungen bezeichnet werden. Stuhlreihen, die jenen des Publikums gegenüber angebracht waren und die im Laufe des Abends teilweise komplett weggeräumt wurden und teilweise neue Gruppierungen erfuhren, reichten mit wenigen anderen, sparsamen Requisiten völlig aus, um das düstere und ins Verderben führende Geschehen zu unterstreichen. Der Einsatz von kleinen, transportablen Lichquellen, welche die Schauspieler streckenweise mit sich trugen, war effektvoll und brachte zusätzlichen Raum ins Geschehen. Keiss`Stück, das zwischen Anpassung und Gesellschaftsauflehnung pendelt, war insofern eine große Herausforderung, als die jungen Leute teilweise „alte“ Charaktere spielen mussten. Suzanne Aubert als Großmutter Teresa gelang dies mit Fortdauer des Abends überzeugend, Benoit Laudenbach als Chevalier hatte damit schon allein aufgrund seiner herausragenden körperlichen Konstitution eines Hühnen keine Probleme. Julien Geffroy als Sanahel wie ein Störfaktor in der rigiden Gesellschaft wahrgenommen, hatte eine unglaublich wohltuende, frische und offene Bühnenpräsenz; seinen Werdegang lohnt es sich zu verfolgen. Kimberley Biscaino, Chloé Chaudoye, Azéline Cornut, Hugo Eymard, Maxime Kurvers, Lucas Lelièvre und Malvina Morisseau, die sich als revolutionäre Maia gegen die Bevormundung des Chevaliers offen zur Wehr setzte, ergaben eine unglaublich homogene Truppe, bei der es ungerecht wäre, auch nur einen Namen nicht zu erwähnen. Ein Abend mit schauspielerisch guten Leistungen und eine gute Regie, dem einzig intellektuelle Herausforderungen in der Dramaturgie fehlten, aber vielleicht lässt sich das noch verbessern. Der Autor würde sich damit in illustrer Gesellschaft befinden, hat doch auch Friedrich Dürrenmatt, um nur einen prominenten Kollegen herauszuheben, fast alle seine Werke in mehreren Fassungen zu Papier gebracht.

Trostloses Aufbegehren und die Verrücktheit eines Wasserhuhns

La Poule d´eau (c) Franck Beloncle

Die zweite Inszenierung, nämlich „Das Wasserhuhn“ von Stanislaw Ignacy Witkiewicz (1885-1939), war nicht nur geeignet, die Schauspieleleven kennenzulernen, sondern auch das umwerfende Stück des polnischen Autors, das nicht gerade häufig gespielt wird. Zwischen Realsatire, Fiktion und Absurdität siedelte er ein Familiendrama an, das sich vor dem Hintergrund der Zeiten- und Gesellschaftswende kurz vor der russischen Revolution abspielte. Über dem zugrunde liegenden Vater-Sohn-Konflikt spinnt sich ein Netz aus Dekadenz, Lebensüberdruss, Lebenslust, Menschenverachtung und Identitätssuche, aber so geschickt aufgebaut, dass in keiner Sekunde Langeweile aufkommt und die sprühenden Gedanken sich Schlag auf Schlag abwechseln. Noch dazu schwanken die Dialoge zwischen Tiefschwarz und Grellbunt, das Lachen kann binnen Sekunden ersticken und sich in den nächsten Momenten wieder freie Bahn brechen. Wie in der Anfangsszene, in welcher der junge Russe Jan Parblichenko Elisabeth, die spöttisch das Wasserhuhn genannt wird, auf ihr Geheiß hin erschießt, um in seinem Leben endlich einmal eine große Tat zu begehen. Plötzlich taucht aus dem Nichts ein Kind, Tadzio, auf – gespielt von Mexianu Medenou, einem überaus stattlichen schwarzen, jungen Mann – welches Jan die Absurdität erklärt, er sei Elisabeths Sohn und somit jetzt seiner. Die Unbefangenheit, die Medenou zur Schau stellt, macht das Kind, das er verkörpern soll, rasch glauben. Zwischen all den verrückten und voreingenommenen Familienmitgliedern, wie zum Beispiel der Duchesse Alice de Nevermore, die sich Tadzios “Vater” an den Hals wirft und in ihm doch nichts als ein neues Männerabenteuer sucht, seinem Großvater, Wojtek Walpor, der seinem Sohn Jan ständig erklärt ein Taugenichts zu sein und schon gar kein Künstler, was er gerne wäre, und seiner angeblichen Mutter Elisabeth, die am Ende des Stückes wieder auftaucht um ihr eigenes Kind, das sie jedoch vehement verneint, zu verführen, ist dieses Kind bzw. in späterer Folge dieser junge Mann der einzige, an dem die Welt mit ihren Verrücktheiten spurlos vorüber zu gleiten scheint. Jeanne Cohendy als Duchesse überzeugt sowohl in großer Robe mit roter Perücke, als auch im seidenen Schlafrock mit wirren Haaren. Sie nimmt das Leben nicht ernst und das Leben sie auch nicht. Welch gesegneter Charakter, dem auf diese Weise Schmerz wenig anhaben kann. Wojtek Walpor als Großvater altert gekonnt vom aufbrausenden, alles beherrschenden Despoten hin zum allein gelassenen, Karten spielenden Greis. Selin Altiparmak als Elisabeth bleibt ewig jung und bildet einen schönen und logischen Gegenpart zu Vassili Bertrand, der Jan spielt, welcher sie in diesem Stück gleich zweimal erschießt. Beeindruckend ist sein Alterungsprozess, in welchem er in seinem Wesen seinem eignen Vater immer ähnlicher wird. Schlussendlich bereitet er seinem Leben ein gewaltsames Ende, was Wojtek Walpor zur grotesken Aussage hinreißt: „Die Welt hat einen großen Künstler verloren!“ Es ist nicht sein eigenes Versagen, dass ihn dazu treibt, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass sich alles im Leben zu wiederholen scheint und er den Mächten der Welt völlig hilflos wie eine Marionette ausgeliefert ist. Das Bühnenbild, aus wenigen Möbeln unterschiedlich zusammengesetzt, mit weißem Kunstschnee am Boden, der wohl als Sinnbild für die menschliche Kälte angesehen werden kann, ist zweckmäßig. Pfiff erhält es insofern, als die Geschäftspartner der Duchesse, drei alte Herren, die eine Theosophische Firma repräsentieren, als Kleiderpuppen herumgefahren werden und ihre Stimmen aus dem Lautsprecher erschallen. Dass diese Firma ausgerechnet in jenem Moment Pleite geht, als die Revolution vor der Türe steht, ist mehr als logisch. Schön, wie Witkeiwicz mit diesem kleinen Sprachtrick, nicht umsonst kommt das Wort Theosophie im Firmenwortlaut vor,  auf die Ablösung des orthodoxen Christentums durch den Kommunismus verweist. Ein gutes Beispiel, wie mit scharf und pointiert eingesetzter Sprache ganze Universen in Sekundenschnelle zu Grabe getragen werden können. Anne Lezervant, Jérémie Mabrel, Arthur Michel und Charles Zevaco bleiben noch zu erwähnen, die allesamt gekonnt ihre ausgeprägten Charaktere zu diesem wirren Personenkarussel beisteuern. Ein schöner, anregender Theaterabend, der seine Wurzeln in der Tradition der russischen Großmeister des 19. Jahrhunderts ausgebildet hat, über diese jedoch weit in die Zukunft weist.


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