Triumph des Dogmas

Triumph des DogmasOberflächlich betrachtet unterscheidet sich die Diskussionskultur in der alten DDR und die im neuen, vereinigten Deutschland grundsätzlich voneinander. Zumindest so lange es um Kinofilme, neue CDs alter Bands, Kochrezepte und alten Wein in neuen Schläuchen geht, darf jeder ungestraft sagen, was immer ihm in den Kopf kommt. Die Stones unheimlich spannend. Der neue Götz-George-Film eine Wucht. Zachs Restaurantkritik sollte viel öfter im Abendprogramm laufen. Warum gibt es keine Dokusoap, in der ein erfahrener Winzer Eiswein aus Ebenholzfässern im Erzgebirge zapft?
Erst wenn es grundsätzlich wird, greift der Konsens der Demokraten, muss verteufelt werden, was anders denkt, heißt es ausschalten, ausmerzen und entlarven, als wäre Stalin, einst der gutmütigste aller Väter der Völker, noch das Maß aller Debattendinge. So erinnerte der hysterische Aufruhr um Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ an eine in die Neuzeit portierte Anklage wegen parteifeindlicher Plattformbildung, wie sie der SED-Politiker Rudolf Herrnstadt erlebte, nachdem er im Sommer 1953 für einen neuen Kurs der deutschen Kommunisten hin zu einer Herstellung der deutschen Einheit plädiert hatte.
Von einer im Chor singenden Presse wurde Herrnstadt zum „Trotzkisten“ und „Feind des deutschen Volkes und der Partei der Arbeiterklasse“ erklärt. Der Verstoß gegen das Dogma, das notfalls auch die Einheit der Partei über die Erkenntnis der Wahrheit stellte, kostete Herrnstadt seine politische Karriere. Der Mann, der von entsprechend ausgebildeten Kadern heute sicher als „Sarrazin der Einheitsdebatte“ bezeichnet werden würde, beendete seine Laufbahn als Mitarbeiter in einem Merseburger Archiv, ideologisch vernichtet, gebrandmarkt und aus seiner Partei ausgeschlossen.
Ein Schicksal, das nach Ansicht von Beobachtern auch heute noch Menschen treffen sollte, die es wagen, gegen den medial vereinbarten Konsens der Demokraten eigenen Ansichten zum besten zu geben. Sarrazin wurde des Verstoßes gegen sozialdemokratische Grundsätze beschuldigt. Frank Schäffler, der den FDP-Mitgliederentscheid gegen den Euro-Rettungsfonds ESM angestoßen hatte, wurde mit dem Vorwurf bekämpft, er provoziere durch sein Ausscheren aus dem Konsens das Ende der Euro-Zone. Fritz Vahrenholt schließlich stachelte die Verteidiger des Dogmas der Erderwärmung durch menschengemachtes CO2 zur Forderung an, sein Unternehmen müsse ihn sofort und ohne Abfindung entlassen.
Gustave Le Bon hat die Phänomene, die hinter der zutiefst undemokratischen Art des Umgangs mit abweichenden Meinungen stecken, bereits im Jahr 1895 analysiert. Er sieht die „auffallende Einbildungskraft der Massen“ als Leinwand, auf der die Taschenspieler der veröffentlichten Meinung ihr Fingertheater aufführen. Diese Einbildungskraft sei „leicht aufs tiefste zu erregen“, schreibt er in seiner „Psychologie der Massen“. Für die Massen, die weder zur Überlegung noch zum logischen Denken fähig seien, gebe es nichts Unwahrscheinliches. „Daher werden die Massen stets durch die wunderbaren und legendären Seiten der Ereignisse am stärksten ergriffen.“
Wettert ein Autor wie der frühere Rechtsextremismus- und heutige Klimaexperte Toralf staud nur laut genug über ein Buch, das Fragen zum Klimawandel stellt, scheint es den Menschen auch schon, als sei dieses Buch in der Lage, Einfluss zu nehmen auf die Erdtemperatur. „Leugner“, ruft Staud, als könne Vahrenholt den Thermostaten der Welt auf und zudrehen, wie er will, als sei „leugnen“ ein Straftatbestand und eine Datenreihe zur nachlassenden Zunahme von Temperatursteigerungen blanke Ketzerei.
„Das Wunderbare und das Legendäre sind tatsächlich die wahren Stützen einer Kultur“, erkannte schon Le Bon, „der Schein hat in der Geschichte stets eine größere Rolle gespielt als das Sein. Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem Wirklichen.“
Wirklich wird, was immer wieder wiederholt wird, sei es wahr, unwahr, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Gefahren entstehen, wo über sie berichtet wird: Die Opfer der Schweinegrippe, die es nicht gab, bekamen etwa 50.000 Mal so viel Sendeplatz wie die Opfer von Fahrradunfällen, bei denen Jahr für Jahr rund 80.000 Menschen sterben oder verletzt werden.
„Die Massen können nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen“, fand Le Bon. Nichts errege die Phantasie des Volkes deshalb so stark wie ein Theaterstück, wobei man heute Fernsehfilm, Kinokracher, Spiegelgeschichte ergänzen müsste. Le Bon erzählt die Geschichte von jenem „Volkstheater, das den Schauspieler, der den Verräter spielte, nach Schluss der Vorstellung schützen musste, um ihn den Angriffen der über seine vermeintlichen Verbrechen empörten Zuschauer zu entziehen.“ Das ist der geistige Zustand der Massen, die Verfassung, in der Demagogen den Menschen einreden können, es sei für alle von Schaden, wenn einige wenige auf eigene Faust abweichende Ansichten äußern.
Warum sie nicht reden lassen? Warum ihnen unterstellen, ihr Handeln, das ja nur reden ist, sei schädlich? Der Hintergrund findet sich auch in Le Bons Klassiker, denn dort steht „in der Phantasie des Volkes ist die Macht der Eroberer und die Kraft der Staaten begründet.“ Wenn man auf sie Eindruck mache, reiße man die Massen mit.
Wann das geschieht, ist unklar, bis es geschieht. Doch wenn es geschieht, ist es zu spät. „Alle bedeutenden geschichtlichen Ereignisse, die Entstehung des Buddhismus, des Christentums, des Islams, der Reformation, der Revolution und in unserer Zeit das drohende Hereinbrechen des Sozialismus sind die unmittelbaren oder mittelbaren Folgen starker Eindrücke auf die Phantasie der Massen.“
Auch die großen Staatsmänner aller Zeiten und Länder, die unumschränkten Gewaltherrscher einbegriffen, hätten die Volksphantasie als Stütze ihrer Macht betrachtet. „Niemals haben sie versucht, gegen sie zu regieren“, schreibt Le Bon. Immer aber ging ihr Bestreben dahin, zu verhindern, dass neue Gedanken, abweichende Ansichten, dissidentische Meinungen überhaupt vernehmbar wurden, denn so war sichergestellt, dass sie die Phantasie des Volkes nicht zu entzünden vermochten.

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