Der letzte Comic, den ich in diesem ersten Triple [die Vorgänger findet ihr hier:1v3 & 2v3] vorstellen möchte, trägt den programmatischen Titel "Die Mauer. Bericht aus Palästina".
Sein Autor ist der junge Franzose Maximilien Le Roy. Ich wurde auf ihn & seine atemberaubende Kunstwertigkeit zuerst durch seine Arbeit als begnadeter Illustrator der "Nietzsche"-Comicbiografie von Michel Onfray (Knaus) aufmerksam, welche ich einem späteren Triple (Comic & Literatur) würdigen werde.
Der erst 25 jährige, erweist sich in diesem Comic, als ein ausgesprochen radikaler, pointierter und hellsichtiger Chronist der humanitären Zustände innerhalb der besetzenden Gebiete. Die (wie ich in der Vorbemerkung zur Besprechung des ersten Titels dargelegt hatte) ebenfalls dem Staatsgebiet Israels zugehörig sind.
Dennoch ist der Untertitel "Bericht aus Palästina" mehr als nur ein knapper Hinweis auf ein Besatzungsstatut. Le Roy rückt die palästinensische Bevölkerung in den Fokus seiner Betrachtungen. Diese Praxis unterscheidet seinen Erzählung gänzlich von den Schilderungen Gliddens, die nicht in der Lage war über diese Bevölkerungsgruppe zu sprechen, da sich ihr während der Durchreise keinerlei Kontaktmöglichkeit dazu bot.
Und ebenso von der Position Delisles, der die scharfen Kontraste der Lebenswirklichkeiten der israelischen und palästinensischen Bevölkerung(en) Israels zwar abstrakt thematisierte, diese aber selten visualisierte.
Le Roy wurde im Jahr 2008 eingeladen einen Zeichenworkshop im Kulturzentrum des Flüchtlingslagers Aida in der Nähe von Bethlehem im Westjordanland zu kuratieren. Dort lernte er den gleichaltrigen Zeichner Mahmoud Abu Srour kennen, den er ein Jahr später erneut besucht. Beide bereisten in der Folge die beengte Welt der palästinensischen Flüchtlingslager. Beide fassen diese Erfahrung in dem vorliegenden Buch zusammen.
Ich schreibe hier bewusst beide, denn trotz der Coverettiketierung, welche den Franzosen als Autoren anführt, kann meines Erachtens hier aufgrund des Raumes, den er seinem Co-Autoren gewährt - nicht glaubhaft von einer Trennung zwischen Le Roy & Srour gesprochen werden. Somit erscheint es sinniger und zielführender von einer doppelten Autorenschaft unter der Chiffre Le Roy zu sprechen.
Der schmale Band enthält neben den knapp 75 Comicseiten, einen ausführlichen Appendix, welcher die gesammelten fotografischen Eindrücke Srours und ein Interview Le Roys mit dem anerkannten Nahostexperten Alain Gersh enthält.
Dieser hatte der Regionalkonfliktforschung durch die Publikation seiner Studien "Israel - Palästina. Hintergründe eines Konfliktes" wichtige neue Impulse verliehen, weil er damit die erste vergleichende Geschichtsstudie, der jahrzehntelang anhaltenden Spannungen vorlegte.
Im Gegensatz zu der schelmischen, leichtfüssigen Prosa Delisles und der individualistisch geprägten Beobachtung Gliddens, dominiert bei diesem Titel die unterkühlte Distanz. Der Autor selbst verschwindet fast vollständig und lässt seine Beobachtungen ausschliesslich durch seinen Mitautor kommentieren.
Diese Verschränkung führt zu einer eigentümlichen Kombination aus unmittelbarer, unausweichlicher Direktheit und bewusster Entrücktheit. Der Leser nimmt die Umgebung durch die Augen des jungen Palästinenser wahr. Unverblümt, direkt, ungeschliffen.
Trotz der unterkühlten Schilderungen brennen sich die meisten Bilder Le Roys tief ins Gedächtnis ein. Er setzt nicht auf Knalleffekte oder Empörungsprosa - er wählt einen anderen, schockierenderen Weg. Er dokumentiert.
Die dabei entstanden Miniaturen sind präzise skizziert, so wird der Besatzungsalltag, der zumeist hinter knappen Vierzeilen in den Medien verschwindet, sichtbar. Bei seiner Arbeit läuft Le Roy niemals Gefahr ein falsches, heroisches Narrativ anzustimmen. Seine Ablehnung der terroristischen Strukturen ist unverkennbar. Niemals lobt oder bagatellisiert er Attentate oder Morde. Er ist dokumentierender Chronist und niemals parteiischer Zeuge.
Im Gegenzug stellt er die fragwürdigen Praxen der israelischen Regierung ebenso bloss. Die Checkpoints, die Räumungen, die Kollektivstrafen, die durch verschiedenste Menschenrechtsorganisationen sichtbargemachte Folter und die verdachtunabhängigen Verhaftungen. Durch die Visualisierung dieser ununterbrochenen Verstösse gegen internationale Statuten werden Verzweiflungstaten einzelner verständlicher.
Dies ist jedoch niemals als Apologie zu verstehen. Man kommt nicht umhin, dem jungen Autoren ein Chapeau zuzurufen. Er bewegt sich auf diesem äußerst brüchigen Eis beneidenswert sicher. Ob dieser hohe Reflexionsgrad seiner gemeinsamen Reise mit Mahmoud zu verdanken ist, ist spekulativ, aber naheliegend.
Mahmoud überrascht, denn trotz aller selbst erlebten Kränkungen glaubt er noch immer fest an die Möglichkeit des Friedens zwischgen beiden Völkern. Dies - obwohl die Etappen seiner Demütigungen zahlreich sind. Le Roy macht sie sichtbar - die Schläge der Grenzposten, den offenen antiarabischen Rassismus rechtsgerichteter Siedler und auch die gnadenlose Zerstörung jeglicher ökonomischer Grundlagen, im Rahmen einer Kollektivbestrafung.
Diese bittere Episode (S. 62-66) kleidet der Zeichner in ein angespanntes Rot, bei dem ein expressiver Strich dominiert. Bulldozer zerstören das Haus, der Viehbestand wird niedergemacht, die Hütehunde erschossen - nichts bleibt zurück, eine Politik der verbrannten Erde. Auch diese Taten sind Teil der israelischen Realität.
Dass wenige Wochen später, an der selben Stelle, eine jüdische Siedlung errichtet wird, entsetzt. Zwar wurde der fortschreitende Siedlungsbau in den besetzten Gebieten (nicht zuletzt durch die deutsche Regierung) scharf kritisiert, aber diese abstrakten, makropolitischen Forderungen maskieren individuelle Schicksale.
Le Roy gelingt durch seine glaubwürdige Darstellung des Sachverhalts, die "kleinen" Geschichten hinter diesen diplomatischen Nebelwänden sichtbar zu machen. Er rückt die Betroffenen in den Fokus seiner Schilderungen und befreit sie aus dem Feld des Abstrakten und schwerlich Faßbaren. Er individualisiert somit die Leiden und Nöte der Opfer dieser Politik.
In dieser eindrucksvollen Annäherung an die dunklen Seiten des israelisch-palästinensischen Konflikts beschreibt Le Roy, was Glidden in ihrem Comic verschweigen musste, da der interen Andere für sie blickdicht hinter dieser landzerteilenden Mauer verborgen blieb. Auch fokussiert er deutlich schärfer als Delisle, dies ist aber auch den sehr verschiedenen Erzählformen und Formatlängen geschuldet, die erheblich voneinander abweichen.
Während Delisle auf knapp 360 Seiten ein sehr breites Panorama des Konflikts auffächert, welches durch seine Aussensicht dominiert wird, pointiert Le Roy seine Erzählung auf knapp einem Fünftel der Seiten. Natürlich läuft er Gefahr als parteiischer Chronist diffamiert zu werden, weil er den komplexen Konflikt ausschliesslich aus der Perspektive Mahmouds betrachtet, aber er kennzeichnet klar, dass es sich hierbei nur um ein mögliches Prisma der Beobachtung halt.
Als Resümee kann ich nur folgende Zwischenlösung anbieten. Israel verstehen ist auch nach 60 Jahren und mehr unmöglich - wenn man versucht sich einer einfachen Antwortstruktur zu entziehen. Akzeptiert man Israel als Heimstatt beider Völker existieren zwei innenpolitische Sphären, die sich bisher noch nicht versöhnen konnten.
Zahllose aussen- und innenpolitische, ideologische, religiöse und strategische Diskurse überlappen und verdichten, beschleunigen und bedingen sich hier auf engstem Raum. Die Lager waren niemals monolithisch und jedes binäre Erklärungsmuster muss an der Komplexität des Konfliks scheitern. Ich will dies kurz an zwei (verknappten) Beispiele illustrieren.
Innerhalb der palästinensischen Innenpolitik kommt es zu einer zunehmenden Radikalisierung verschiedenster Gruppen, die sich durch immer brutalere Taten, gegen die im Rahmen der "Arabellion" erstarkenden gewaltfreien Bewegungen positionieren "müssen", um nicht noch mehr politischen Einfluss einzubüssen. Leider besitzt ein Attentat einen höheren Nachrichtenwert als der passive Widerstand und somit dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung eine Protestform, die (glaubt man Mahmoud) keine Mehrheit mehr bei der palästinensischen Jugend besitzt. Eine Facette, die ich sehr gerne sehr viel häufiger thematisiert sehen möchte.
Andererseits darf auch nicht der zunehmende nationalistisch-religiöse Drift der gegenwärtigen israelischen Regierung bagatellisiert werden - auch hier setzen die trennende Kräfte auf eine fortschreitende Eskalation des Konflikts, weil all ihre argumentativen Muster auf der Unversöhnlichkeit beider Seiten basieren.
Auch über diese Radikalen muss gesprochen werden, denn wer bewusst illegale Siedlerinteressen forciert und billigend in Kauf nimmt, dass ganze palästinensische Ortschaften von jeglicher Form der ökonomischen Partizipation ausgeschlossen werden, kann nicht als ein glaubwürdiger, um Ausgleich bemühter Friedensstifter gelten.
Dutzende, vielleicht hunderte weiteren Comics werden nötig sein, um Israel zu verstehen. Dieses verstümmelte, durch eine Mauer zerrissene Land, welches die Heimat zweier Völker ist. Ich hoffe er gelingt uns allen, noch bevor die wirren Brandredner ein Inferno entfachen, welches alle Hoffnungen zerstört.