Traurig und einsam

Von Erichkimmich @Erich_Kimmich

Tag 109. Mittwoch 21.8.2013. Von San Nicolás del Real Camino auf der Via Trajana bis Reliegos.

In der kleinen Herberge sind schon wieder alle aufgebrochen. Gegen Viertel vor sieben stehe ich auch vor dem Haus im Dunkeln und marschiere los. Ich lehne es ab, mit der Stirnlampe zu wandern. Schichtpilgern nennt Hape Kerkeling das in seinem Buch.
Hinter San Nicolás zieht sich der Weg zwischen den Feldern leicht empor.
Es ist ein ganz besonderes Schauspiel heute für mich vorgesehen: Geradeaus vor mir senkt sich ein großer gelber Vollmond vor einem violettfarbenen Himmel hinab. Je näher er der Erde kommt, desto fahler und blasser wird die Mondscheibe. Und genau in der entgegengesetzten Richtung – hinter mir – taucht ein orangefarbener Sonnenball am Himmel auf, der erste Strahl blitzt und kündigt den neuen Tag an. Das ist umwerfend! Ich allein auf weiter Flur zwischen den Planeten.
Vor wenigen Minuten habe ich die elektronische Nachricht gelesen, die ich am Abend vorher nicht mehr bemerkt habe: Unsere Katze ist tot. Ich stelle sie mir vor, wie sie durch ihre Blicke und ihr Verhalten mit uns kommuniziert hat. Wie ich sie oft bei ihrer nächtlichen Runde getroffen habe, sie gefüttert werden wollte und sich hat streicheln lassen. Jetzt werde ich sie nie mehr wiedersehen! Ich denke an die Lieben zu Hause, die sich mit dem Sterben noch viel intensiver befassen mussten, spüre ihre Gefühle und Niedergeschlagenheit. Das alles überwältigt mich maßlos und bringt mich zum Heulen. Macht einen der Weg empfindlicher? Wieso erfasst mich die Rührung so heftig? Ich kann dem Ganzen nur nachgeben, die Tränen fließen lassen; sehe den Weg vor lauter Tränen nicht mehr. Auf dem Weg treffe ich keine Menschenseele – und bin froh darüber.

In Sahagun finde ich ein Café, wo ich frühstücken kann. In einer Bäckerei noch ein süßes Stückchen. Gegen elf Uhr gehe ich weiter. Ich habe mich für die nördliche der beiden Wegvarianten entschieden – über Calzadilla de los Hermanillos. Wörtlich übersetzt heißt das “Sträßchen der Mönchlein” und der Rother-Wanderführer kommentiert diesen Hang zur Verkleinerung von Ortsnamen so “als wollte man die Winzigkeit des Menschen in diesen immensen Weiten noch unterstreichen.”
Während sich die andere Variante lange entlang der Autobahn hinzieht, dabei aber einige Ortschaften streift, geht mein Weg in Calzada del Coto in eine randlose, staubige Trasse über, die aussieht wie der Trails ins Endlose bei einem Wild-West-Film. Der Wanderführer bezeichnet das nicht zu unrecht als “einsame Variante” und “ganz spezielles Erlebnis. Anfangs gleicht sie locker bewachsenen afrikanischen Steppen … Teilweise sind keine Spuren menschlicher Besiedlung mehr zu sehen,” schreibt die Autorin Cordula Rabe. Sahara, ein Nichts, Prärie, denke ich mir. Braune, rostfarbene Erde. Und runde Steine, oft faustgroß und immer da wo man hintreten will. Ganz vorne läuft eine Gestalt. Sie hat ihre Wanderschuhe in der Hand. Als ich näher komme sehe ich einen Pilger, der offenbar barfuß geht. Er stellt sich als Franz aus Kärnten vor. Jeden Tag ein Stück barfuß sei gesund und härte ab, erklärt er mir. Ein Stück weit gehen wir gemeinsam. Er erzählt mir von geheimnisvollen Kraftfeldern, die vielen Orten eigen sei, ganz speziell auf dem Jakobsweg, oft an Stellen wo seit Alters her Kirchen stehen. In einer Senke fließt tatsächlich ein kleiner Bach, Pappeln spenden Schatten. Hier macht Franz eine Pause, während ich den Anstieg nach Calzadilla de los Hermanillos in Angriff nehme. Es ist heiß! In der einsamen Weite merkt man das deutlicher als je zuvor. Nach13 Uhr erreiche ich das kleine Dorf auf dem Plateau und nutze die Gelegenheit, in einem kleinen Restaurant mich mit Speis und Trank zu stärken.
21 Kilometer habe ich bereits gelaufen, etwa weitere 18 sollen noch folgen – ohne jede Unterbrechung! Ich könnte hier im Dorf in die Herberge gehen. Ich bin unschlüssig und entscheide mich dann trotzig fürs Weiterwandern. Gegen 14:40 Uhr starte ich. Erst zieht sich die geteerte Straße schnurgerade über die Hochfläche. Da kann ich Tempo machen. 6,5 km/h sind dabei auf Dauer drin. Dann aber biegt die Straße ab und die alte Römerstraße Via Trajana führt geradeaus weiter. Sie hat schon zu Römerzeiten Astorga mit Bordeaux verbunden.
Es ist enorm heiß – und enorm eintönig. Außer Franz treffe ich den gesamten Tag über keinen ilger auf dieser Route! Und auch keinen Radpilger, die sonst recht häufig zu sehen sind.

Der Camino ist wie das Leben – mal schön, mal schrecklich

Der Wind wirbelt manchmal kleine Staubfahnen auf. Schmetterlinge fliegen in kleinen Gruppen vorbei. Und Steine in allen Formen und erdigen Farbtönen liegen umher. Erstmals benutze ich mein Navi-Handy als Musikbox und höre mir ein Lied nach dem anderen an, mal als Taktgeber, mal einfach zur Abwechslung. Als Adele “Someone like you” singt ist mein Weltschmerz wieder unvermittelt da, ich heule in die Sonne und fühle mich elend und traurig, hilflos und klein, möchte abbrechen und verfluche alles.
Im Guide heißt es nicht zu unrecht: “Man fühlt sich gänzlich allein und ab einem gewissen Punkt mag auch der Glaube fehlen, überhaupt noch auf eine Ortschaft zu stoßen.”
Einen einzigen Stopp mit Flaschenwechsel mache ich auf den gesamten 18 Kilometern. Jetzt bin ich über den Buffer von UltraSports froh, den ich seit Monaten mit mit führe: Das baut enorm wieder auf!
Gegen 18.10 Uhr erreiche ich das Ende der endlosen Ebene. Vor mir liegt ein kleines Nest namens Reliegos. Und kaum habe ich die ersten Häuser passiert, sehe ich da ein buntes Haus, vollbemalt und beschriftet – Torre Bar steht da und eine junge Kellnerin serviert mir einen erfrischenden Orangensaft. Ich bestelle Nachschub. Mann, schmeckt das gut! Zum Übernachten empfiehlt sie mir den Albergue La Parada ein paar Häuser weiter unten. Dort kann ich sogar ein Einzelzimmer buchen. 40 Kilometer bin ich heute gelaufen!! Das ist die bislang längste Tagesstrecke! Das Netto-Gehtempo liegt immer noch bei 4,21 km/h in 9:21 Stunden – angesichts der holprigen Steinpisten bin ich damit sehr zufrieden.
Nach dem Abendessen gehe ich nochmals zur Torre-Bar. Der außerordentliche Wirt, Signi, ist Spanier und hat eine ganz besondere Ausstrahlung. Er spricht auch französisch und hat – wie man deutlich hören kann – einen guten Musikgeschmack. Ich sauge an meiner ersten, kühlen Sangria. An den Wänden hängen Fotos und Radtrikots, ist mit Filzstift notiert wer welchen Spruch der Welt hinterlassen will. Grüße, Weisheiten, Namen. Signis schließt später die Bar ab und geht mit seiner Partnerin und mir zum La Parada, wo er irgendwoher Rotwein organisiert. So sitzen wir hinterm Haus bei Wein und Oliven und führen tiefschürfende Gespräche. Es tut gut, dass es solch tolle Menschen gibt! Auch das ist eine ganz besondere Erfahrung auf dem Jakobsweg.
Mein Fazit: Der Weg kocht dich weich, formt dich um, du wirst sensibler denn je.

40 Kilometer heute! Insgesamt 2.320 km. Durchschnitt mit Pausen 3,41 km/h, ohne Pausen 4,21 km/h. Maximale Höhe war 911 Meter.