“Transforming Our World” – Tausende Evangelikale in Erfurt

WEIMAR. (fgw/gbs) Zum Jahreswechsel tref­fen sich Christen aus aller Welt in Erfurt zum Mission-Net Congress. Über 3.500 junge Evangelikale wer­den erwar­tet. Das Motto: „Transforming Our World“. Was ver­birgt sich hin­ter die­sem Anspruch? Wie gefähr­lich ist die evan­ge­li­kale Bewegung in Deutschland? Felix Thiessen, Bundesvorsitzender der Jungen Atheisten und Mitglied im Förderkreis der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), kennt die evan­ge­li­kale Bewegung seit sei­nen Kindertagen. Frederik Beyer von der gbs Mittelthüringen hat mit ihm gespro­chen.

“Transforming Our World” – Tausende Evangelikale in Erfurtvon Frederik Beyer

Beyer: Was fas­zi­niert Sie an dem Thema?

Thiessen: Von Faszination zu spre­chen wäre viel­leicht unpas­send, viel lie­ber wäre es mir wenn ich mich mit die­sem Thema man­gels Relevanz nicht beschäf­ti­gen müsste. Jedoch sehe ich in der evan­ge­li­ka­len Bewegung eine gefähr­li­che Gruppe, die alles ver­nich­ten möchte was sich frei­heits­lie­bende Menschen über Jahrhunderte hart erkämp­fen muss­ten und an vie­len Orten die­ser Welt immer noch müs­sen. Diese Szene stellt für mich, neben den radi­ka­len Strömungen im Islam, die größte Gefahr für unsere westlich-humanistischen Werte da. Da es voll­kom­men unter­schätzt wird, halte ich es für gebo­ten, die­ses Thema der Öffent­lich­keit prä­sent zu machen. Als jemand, der in einem Dorf im Nordschwarzwald auf­ge­wach­sen ist – eine Gegend, aus der die Evangelikalen ursprüng­lich größ­ten­teils kom­men (Pietisten) – und erle­ben musste, wie die meis­ten mei­ner Mitschüler mir erklä­ren woll­ten, die Erde sei wenige Tausend Jahre alt und die Evolutionsbiologie sei eine gefähr­li­che Lüge, eine Probe Gottes, wahl­weise eine dia­bo­li­sche Eingebung, sehe ich mich in der Pflicht, vor den Folgen einer solch fun­da­men­ta­len Verblendung und ihrer schwer­wie­gen­den Folgen für die Gesellschaft zu war­nen.

Beyer: Das Motto des Mission Net Congress in Erfurt lau­tet „Transforming Our World”. Gesetzt den Fall, die Welt ist im evan­ge­li­ka­len Sinne „trans­for­miert” – wie würde diese Welt aus­se­hen?

Thiessen: Sie wäre rück­stän­dig und enorm into­le­rant, für viele Individuen würde sie Verfolgung bedeu­ten. Für Frauen wäre es das Ende der Gleichberechtigung, da die evan­ge­li­kale Lebensführung für sie nur den Platz als gebär­fä­hige Haushaltsmaschine vor­se­hen würde und in man­chen beson­ders radi­ka­len Ausprägungen die­ser Szene wird die Auffassung ver­tre­ten, die Frau müsse Ihr Haupt ver­hül­len als Zeichen Ihrer Unterwerfung. Areligiöse, Andersgläubige und Schwule hät­ten eben­falls wenig Freude an die­ser Gesellschaft, da sie per­ma­nen­ter Verfolgung andau­ern­der Missionierung und im letz­ten Fall „Therapie” aus­ge­setzt wären. Weite Teile des Judenhasses und der Judenverfolgung sind eng ver­wandt mit der evan­ge­li­ka­len Weltsicht, die sich an einem der pro­fi­lier­tes­ten Judenhasser in der Geschichte, Martin Luther, aus­rich­tet. So ist auch bei die­sem „Congress” die höchst pro­ble­ma­ti­sche Vereinigung „Juden für Jesus” dabei. Deren Mitglieder sind erklärte Gegner Israels (jedoch nicht aus poli­ti­schen Gründen) und zei­gen häu­fig eine auf­fal­lende Nähe zu Holocaustleugnern wie Ahmadinedschad. Für Deutschland bedeu­tete eine im evan­ge­li­ka­len Sinne ver­än­derte Welt einen Rückfall in den dun­kels­ten Teil sei­ner Geschichte, für Künstler, Frauen, Liberale und Homosexuelle das Ende der Freiheit.

Beyer: Wie stark ist die evan­ge­li­kale Bewegung heute in Deutschland?

Thiessen: Wenn man die Mitgliederzahlen evan­ge­li­ka­ler Netzwerke und „Freikirchen” zusam­men­zählt und dabei einen gewis­sen Toleranzrahmen für Doppelmitgliedschaften mit­ein­be­rech­net kommt man auf etwa 1.6 Millionen expli­zit Evangelikale. Meiner Einschätzung nach liegt die Dunkelziffer jedoch deut­lich höher, da sich viele Evangelikale auch außer­halb von „Freikirchen” in der evan­ge­li­schen Amtskirche auf­hal­ten, so waren in mei­nem Heimatort alle in der Dorfkirche. Dazu muss man wis­sen, dass die evan­ge­li­sche Kirche, ins­be­son­dere deren Jugendarbeit, zuneh­mend evan­ge­li­kal unter­wan­dert wird, anschei­nend ver­spricht sich die wenig attrak­tive Institution von medial per­fekt durch­ge­plan­ten Jugendgottesdiensten wie „Jesus House” einen Mitgliederzuwachs. So ist die Konzeption der Jugendarbeit des kom­plet­ten CVJM in Deutschland fest in evan­ge­li­ka­ler Hand.

Beyer: Aus wel­chen Gründen schlie­ßen sich Menschen der evan­ge­li­ka­len Bewegung an? Welche Studien gibt es dazu?

Thiessen: Es gibt keine aus­sa­ge­kräf­ti­gen Studien hierzu und eigent­lich braucht man sie auch nicht. Wie ich vor­hin bereits erwähnte, bin ich in Wildberg im Nordschwarzwald auf­ge­wach­sen und hatte aus­führ­lich Zeit zu sehen, wie und aus wel­chen Gründen Kinder zu Evangelikalen wer­den. Erst ein­mal ist es so, dass in Gegenden, in denen diese Gruppierungen domi­nie­ren, also haupt­säch­lich im Nordschwarzwald und in man­chen Gebieten in Franken, die Kinder von klein auf ein­ge­schwo­ren wer­den, so hat man uns bei­spiels­weise im Kindergarten erzählt unsere Zungen wür­den in Feuer auf­ge­hen, wenn wir etwas Gotteslästerliches sagen. Später, wenn die Kinder dann in die Schule gehen und Freizeit mit­ein­an­der ver­brin­gen wol­len, kom­men sie um den CVJM nicht herum, der hier der Alleinanbieter ist für Zeltlager, Jugendfreizeit, Bowling… Hierbei nützt man das Gemeinschaftsgefühl die­ser Jugend aus, um es auf den Glauben zu len­ken, man hört Jesus Pop, führt „Theaterstücke” rund um Jesus auf, macht Spendenläufe für die Missionsarbeit. Jugendliche haben in die­sen Gebieten nichts ande­res, als die Möglichkeit, ent­we­der dort teil­zu­neh­men oder fern jeg­li­cher Gemeinschaft zu sein. Mission Net ist nur ein Teil eines bereits län­ger lau­fen­den Programms. Man hat es vor allem auf Kinder aus ärme­ren Verhältnissen abge­se­hen. Man ermög­licht ihnen Teilhabe, Freizeitbeschäftigung und manch­mal sogar ein­fach nur ein Essen und ein biss­chen Zeit in ver­meint­lich behü­ten­der Hand (bspw. Arche), wobei die Indoktrination immer im Vordergrund steht und diese auch immer wie­der aus öffent­li­cher Hand finan­ziert wird.

Beyer: Im September erst war der Papst da, nun kom­men tau­sende Evangelikale nach Erfurt. Warum fin­det der Kongress aus­ge­rech­net im weit­ge­hend säku­la­ren Osten Deutschlands statt?

Thiessen: Weil evan­ge­li­kale Missionsarbeit hier auf frucht­ba­ren Boden fällt, genauso wie Rechts- und Linksextreme hier auch unter jun­gen Menschen, auf­grund der bedau­erns­wer­ten Perspektivlosigkeit in man­chen Gebieten, Zuspruch fin­den kön­nen. Die Arbeit der Evangelikalen hat sich hier kon­ti­nu­ier­lich ver­stärkt, eine Entwicklung, die ich mit gro­ßer Sorge beob­achte.

Beyer: Wir hören in den Medien stän­dig von der Bedrohung durch den isla­mi­schen Fundamentalismus. Nur sel­ten wird von christ­li­chem Fundamentalismus gespro­chen. Welche Art Fundamentalismus ist gefähr­li­cher?

Thiessen: Ich würde sagen, beide Sorten sind gleich gefähr­lich. Wenn Sie in Amerika Frauenarzt sind, der Abtreibungen vor­nimmt, haben Sie einen span­nen­den Job. Wenn Sie ein Schülerzeitungsredakteur in Bremen sind und anläss­lich des Christivals einen kri­ti­schen Artikel schrei­ben, kön­nen Sie sich auf Morddrohung und die Veröffentlichung ihres Wohnortes freuen, sowie ihrer Handynummer mit den ent­spre­chen­den Anrufen. So erging es Hannes Grosch, dem dies wie­der­fah­ren ist. Auch ich bekomme Morddrohungen von Christen, evan­ge­li­ka­len Christen.

Beyer: Die links- und rechts­ex­treme Szene in Deutschland wird vom Verfassungsschutz beob­ach­tet, ebenso radi­kale Islamisten. Wie sieht es aus bei christ­li­chen Fundamentalisten?

Thiessen: Diese wer­den selbst­ver­ständ­lich nicht vom Verfassungsschutz beob­ach­tet, immer­hin sind sie mit der evan­ge­li­schen Kirche gut gestellt und haben eine Menge Freunde in der Politik (Otto Fricke, Christian Wulff, Ursula von der Leyen, Kauder, Dieter Althaus, Karin Wolff…), die dies ungern durch­set­zen wür­den. Ich halte dies für sehr gefähr­lich, da diese Vereinigungen Inhalte ver­tre­ten, die zwar unter der Religionsfreiheit lau­fen, aber die im Grundgesetz beschrie­be­nen Rechte zutiefst miss­ach­ten, mei­ner Meinung nach müs­sen sie vom Verfassungsschutz beob­ach­tet wer­den und ihre mis­sio­na­ri­sche Arbeit gehört auf den recht­li­chen Prüfstand.

Beyer: Die ZEIT berich­tete kürz­lich von den „neuen Evangelikalen” in den USA. Die neuen Evangelikalen seien für eine Trennung von Staat und Kirche, für Kritik an der Regierung, für die Aussöhnung zwi­schen den Religionen. Wie schät­zen Sie diese Wandlung ein? Was bedeu­tet das für die evan­ge­li­kale Bewegung in Deutschland?

Thiessen: Wenn Sie sich mit in Freikirchen orga­ni­sier­ten Evangelikalen unter­hal­ten, wer­den Sie bezüg­lich der Trennung von Kirche und Staat das Gleiche hören. Wenn man ihnen jedoch die glei­chen Privilegien zukom­men las­sen würde wie den Amtskirchen, würde sich wohl nie­mand mehr beschwe­ren. Ich kenne aber kei­nen Evangelikalen, der ernst­haft bereit ist für eine Aussöhnung mit ande­ren Religionen – und wenn doch, dann nur vor­über­ge­hend, um von den men­schen­ver­ach­ten­den Inhalten und Methoden des eige­nen Vereins abzu­len­ken, oder gar mit dem Prädikat „gut” zu recht­fer­ti­gen. Beim bes­ten Bemühen kann ich die­sen ver­meint­li­chen Willen zum Frieden bei den ame­ri­ka­ni­schen Evangelikalen nicht erken­nen.

Beyer: Bundeskanzlerin Merkel hat öffent­lich bekannt, man müsse mehr Christentum wagen. Bundespräsident Wulff hat sich bis zu sei­nem Amtsantritt für die evan­ge­li­kale Organisation ProChrist enga­giert. Bayerns ehe­ma­li­ger Ministerpräsident Günther Beckstein meint tat­säch­lich, die bib­li­schen Zehn Gebote seien mehr wert als tau­sende Gesetze. Wie erklä­ren Sie sich die­ses offen­sive reli­giöse Engagement deut­scher Politiker?

Thiessen: Es ist bei Politikern unge­mein beliebt, ein ewi­ges Loblied auf das Christentum zu sin­gen, da sie sich damit keine Wähler ver­grau­len. Die Christen füh­len sich bestärkt, die meis­ten Agnostiker und auch man­che Atheisten den­ken man­gels aus­rei­chen­der Informationen „Die tun doch auch viel Gutes” oder gar „Die christ­li­chen Werte sind die Grundlage unse­rer Gesellschaft”. Wenn man sys­te­ma­tisch Werte der Aufklärung ein­christ­licht, mis­sio­na­ri­sche Jugendarbeit als schön und sit­ten­haft fei­ert und selbst die radi­kals­ten Verbände nach außen als kusche­lige liebe Menschen auf­tre­ten lässt, muss man sich über die Ergebnisse nicht wun­dern. Um auf die aktu­el­len Entwicklungen in der GBS ein­zu­ge­hen: ich bin der Über­zeu­gung wir sind noch lange nicht soweit, mit der Religionskritik und der Aufklärung über die Gefahren der Religionen auf­zu­hö­ren. Ich ver­stehe Kollegen, denen dies zu ein­tö­nig gewor­den ist, aber wir müs­sen diese Debatte erhal­ten und vor­an­trei­ben, wenn wir ver­hin­dern wol­len, dass fun­da­men­ta­lis­ti­sche Fanatiker wei­ter vor­an­schrei­ten.

Beyer: Was sind aus Ihrer Sicht die drei wich­tigs­ten Schritte, um den Einfluss der Evangelikalen zu redu­zie­ren?

Thiessen: Erstens: Wir müs­sen die Jugend- und Kinderarbeit ver­staat­li­chen und reli­giös neu­tra­li­sie­ren, wir bezah­len sie im Moment auch [schon über­wie­gend aus öffent­li­chen Kassen; fgw], dann würde es kei­nen Unterschied machen, diese Konsequenz zu zie­hen, es kann nicht sein das auf die­sen Indoktrinationsveranstaltungen wie dem Christival eine Bundesministerin – Ursula von der Leyen, damals noch Familienministerin – als Schirmherrin auf­tritt und 250.000 Euro aus all­ge­mei­nen Steuergeldern zuschießt. Zweitens: Christliche Privatschulen gehö­ren mei­ner Meinung nach geschlos­sen, da eine Schule – auch eine pri­vate – sich an den Lehrplan zu hal­ten hat, anstatt mutige Aussagen über Kreationismus im Biologieunterricht zu machen. Drittens: Wir brau­chen eine ein­ge­hende Kontrolle durch staat­li­che Behörden, ver­bun­den mit einer media­len Aufklärungskampagne und im Extremfall müs­sen auch Organisationen ver­bo­ten wer­den kön­nen.

Beyer: Danke für die­ses Gespräch.

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]


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