Traktat über einen Mann, den es so gar nicht gibt

oder Wie die Qualitätsmedien Geschichte als Märchen schreiben.
Die Person des Vladimir Putin ist als Gegenstand seriöser Berichterstattung schon lange ausgeschieden. In den Zeitungen fungiert er ausschließlich noch als Kunstfigur, der man die Attribute der Dämonie verliehen hat. Die Medien sind gerade dabei, diesen Mann fiktionalisiert und narrativ in die Geschichtsbücher zu diktieren.
Traktat über einen Mann, den es so gar nicht gibtEs vergeht kein Tag, an dem nicht eine Meldung zu Putin in den Zeitungen steht. Und obgleich er täglich Zeilenhonorar einbringt, findet der Mann gar nicht als Nachricht statt. Jedenfalls nicht als klassische. Also nicht als objektives, neutrales und nüchternes Sujet. Er gebiert Meldungen, die dem Konsumenten ein Bild vermitteln, das nicht über wirkliche Geschehnisse aufklärt, sondern etwaige Vorurteile nur bestätigt. Der beschriebene Putin ist eine Konstruktion, die nicht mit Ergebnisoffenheit recherchiert wird, sondern nach verplanten Attributen. Er ist so voller einseitiger Boshaftgkeit, Durchtriebenheit und Heimtücke, dass er nur als Personifikation verstanden werden kann. Als Stilfigur des Machiavellismus etwa. Als völlig entfesselte Ikone von einem Machtmenschen, der sein Noworossija gegen jegliche Vernunft durchdrückt. Aber als real existierender Mensch und Politiker kommt er nicht vor. Er ist ein Dämon, eine Legende, die das journalistische Narrativ mit Wesensmerkmalen ausstaffiert, die man sich für einen infernalischen Charakter gemeinhin vorzustellen glaubt.

Putin wird als Stereotyp vermittelt, als Allegorie auf einen Fiesling. Anstelle der wirklichen Person, präsentiert man ein virtuelles Wesen, das nur die Bühne der Öffentlichkeit betritt, wenn man es mit adäquaten Geschichten füttert, die dem stereotypischen Charakter entsprechen. Diese Füllarbeiten leistet der derzeitige Qualitätsjournalismus grandios. Er entwirft Meldungen, die der Idee hinter dieser Rolle gerecht werden. In denen geht es um Gier, Machtversessenheit, Wahn, Großmannssucht und all so kleine Anekdötchen und Randnotizen zur Person, die ein pathologisches Bild von der geistigen Konstitution entwerfen sollen. Seine Motive sind krank, vom Ego geleitet, vom pathologischen Pathos getrieben. Anderes scheint es nicht zu geben. Jede seiner Entscheidungen ist durchtrieben, zeigt nur sein derangiertes Super-Ego. Kurz und gut, man überträgt dieser Person des Zeitgeschehens alle Eigenschaften, die einen Teufel so reiten. Und sie reiten ihn nicht, weil er Gründe hat, sondern schlicht weil er eben der Teufel ist. So spart man sich Erklärungen.
Genau das unterscheidet den Boulevard vom Journalismus. Denn letzterer vergibt keine Charakteristika, verteilt keine Rollen, die er dann mit Klischees anzufüllen hat. Das macht gemeinhin nur der Boulevard. Der Journalismus versucht, wenn er es denn ernst meint, die Realität zu dokumentieren. Er lässt offen und kategorisiert die Person nicht, von der er schreibt und berichtet. Er lässt, um es kürzer auszudrücken, die Person sich als Person entfalten und nicht als Stilfigur oder Abziehbild für etwaige Phantasien. Hält sich der Journalismus nicht an diese Ergebnisoffenheit, hat er faktisch aufgehört Journalismus zu betreiben, wie man ihn noch immer als Ideal lehrt. Dann ist er Boulevard. Publiziertes Klischee. Journalismus dokumentiert, dass beispielsweise auch Gott Schattenseiten hat; Boulevard blendet Schattenseiten aus, weil sie nicht ins göttliche Erscheinungsbild passen.
Dabei spielt es heute gar keine Rolle mehr, ob es die »Bildzeitung« ist, die mal wieder schreibt, dass »Putin-Land [...] abgebrannt« sei, weil der Größenwahn ihn nicht mehr klar und ökonomisch denken lasse. (Übrigens eine aufgewärmte Meldung, die schon vor einigen Monaten verbreitet wurde.) Oder ob in vermeintlich seriöseren Medien erklärt wird, dass Putin sich mit Polen die Ukraine teilen wollte, seine Schergen die MH17 abschossen (was keiner weiß, nur spekuliert wird), er größenwahnsinnig geworden sei und so weiter und so fort.
Auch einer der letzten Weckruf an Europa, publiziert in der »Frankfurter Allgemeinen«, ist ebenfalls von dieser Machart, wenn auch anspruchsvoller geschrieben. In dem Text kommt Putin ebenfalls nur als Stilfigur vor, in die man seine eigenen Vorstellungen von Dämonie hineinprojiziert. Soros schreibt darin unreflektiert von »Putins Zurückweichen«, auf das er sich nicht verlassen will. Also Europa, sei wachsam, denn Putin arbeitet schon am nächsten Plan. In Soros' Kopf kommt der Teufel auch bloß als einer vor, der nie aufgibt, der immer weitermacht mit dem bösen Spiel. Also muss Putin ganz genau nach diesem Muster ticken.
Chronisten tragen Ereignisse zusammen und hinterlassen der Nachwelt so ein Bild von den Protagonisten des Zeitgeschehens. Jedenfalls stellt man sich das idealerweise so vor. Wenn aber Journalisten, die ja in gewisser Weise an der Chronik für die Nachwelt schreiben, herangehen und nicht alles auf sich zukommen lassen, sondern voreingenommen an ihren Zeitgenossen Putin herangehen, ihn schon vorbelasten mit Eigenschaften, die dieser Teufel ja ganz offenbar haben muss, dann kommt dabei geklitterte Geschichte heraus, dann wird eine Stilfigur zum Eintrag im Geschichtsbuch. Wenn man dort dann von einem Mann lesen kann, den es so gar nicht gab, dann wird Geschichte zum Märchen.
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