Tradition & Handwerk im Aostatal (Valle d’Aosta)

Von Sven Becker @theBackpackerde

Auf den Gipfeln jenseits der 2.000 Höhenmeter hat es den ersten Schnee gegeben und auch der Morgen kündigt sich mit unangenehmer Kühle an. Bestes Wetter also, um mal nicht die Berge des Aostatals zu besteigen, sondern Attraktionen abseits der Wanderwege zu erkunden. Seit Jahrhunderten werden in dieser Region handwerkliche Betriebe aufrecht gehalten und mit sehr viel Hingabe die langlebigen Traditionen liebevoll gepflegt. Einige davon werde ich heute besuchen.

Holzschuhe (Sabots) in jeglicher Größe findet man im „Les Sabots d’Ayas“, der Werkstatt für die berühmten Fussschmeichler.

Les Sabots d’Ayas (Ayastal / Aostatal)

Im Ayastal, unweit des kleinen Örtchens Champoluc, liegt die noch kleinere Ortschaft Antagnod. An der Hauptstraße, unauffällig hinter einem Rundbogen versteckt, fällt ein kleiner Laden, der mit seinem verspielten Schaufenster zum Bummeln einlädt, besonders auf. „Les Sabots d’Ayas“ steht dort in großen Lettern geschrieben und macht mich neugierig. Sabots, diesen Begriff habe ich in den letzten Tagen schon häufiger gehört. Damit gemeint sind die traditionell hergestellten Holzschuhe, den niederländischen Klompen nicht ganz unähnlich.

Antagnod, von den hohen Bergen des Ayastals umgeben, ist Heimat des Holschuhmachers Michel (Le Sabots d’Ayas).

Als ich den Laden betrete, der eigentlich nur aus einem Regal, einem Vorhang und einem Verkaufsthresen besteht, werde ich von Michel Becquet freundlich begrüßt. Ihm gehört der Laden und er ist einer von den wenigen übrig gebliebenen Herstellern der Sabots im Aostatal. „Ganze fünf sind es nur noch“, gibt er mir zu verstehen. Das Handwerk muss beherrscht werden, was nicht jeder tut und braucht Zeit, um aus einem Stück Holz diese Art der Schuhe herzustellen. „Aber wenn sie mal fertig sind, passgenau auf den Fuss zugeschnitten, möchte man sie nicht mehr missen“ versucht er mir mit einem Zwinkern die Besonderheiten der Schuhe zu erklären. Er lädt mich ein, seine Werkstatt zu besuchen. Die liegt vor neugierigen Augen geschützt hinter dem Vorhang und wirft mich augenblicklich in eine andere Zeit zurück.

Michel Becquet, Inhaber des Les Sabots d’Ayas, freut sich über jeden Besucher seiner kleinen Werkstatt.

Jede Menge Werkzeug, zumeist alt und mehrmals nachgeschliffen, ziert die Wände. Im hinteren Bereich stehen zwei alte Maschinen, die seit über 100 Jahren sehr zuverlässig ihren Dienst verrichten. An ihnen zeigt er mir, wie aufwändig es ist, die Sabots zu schneiden, zu schleifen und zu formen. Jeder Handgriff sitzt, die Finger sind geübt von jahrelanger Tätigkeit.

Sabots – Holzschuhe. Hier zur Zierde in ganz, ganz klein – anderenorts in groß für echte Füße.

Holzschuhe (Sabots) in jeglicher Größe findet man im „Les Sabots d'Ayas“, der Werkstatt für die berühmten Fussschmeichler.

Es braucht jede Menge Werkzeuge um ein paar Schuhe fertig zu stellen. Und Zeit. Knapp drei bis vier Stunden braucht es vom Holzklotz zum fertigen Schuh.

Die alten Maschinen werden liebevoll in Schuss gehalten. Obwohl über 100 Jahre alt verrichten sie noch immer ihr Werk.

Auf das Holz kommt es an. Und dieses wird ausnahmslos aus den Wäldern der Umgebung, dem Ayastal geholt.

Drei bis vier Stunden braucht es ungefähr, um aus einem Stück Holz ein paar Schuhe zu machen. Verkauft werden sie je nach Aufwand für ca. 40 Euro. Rechnet man nach bleibt etwas mehr als der Mindestlohn übrig. Zieht man noch Materialkosten, Miete und Werkzeug ab, sogar noch weniger. Und dennoch habe ich den Eindruck, dass er glücklich ist. Das Leben in den Bergen, abseits großstädtischen Treibens, scheint vielleicht nicht nur glücklicher, sondern auch genügsam zu machen. Er vermisse nichts, ganz im Gegenteil. Außerdem brauche er für das Holz nichts zu zahlen, gibt er mir hinter vorgehaltener Hand zu verstehen. Gemeinsam mit dem Förster ziehe er im Sommer durch die Wälder und bestimme, welche Bäume er für die Sabots schlagen und nutzen darf. Nur abholen müsse er sie selbst. Doch dafür seien es die besten Hölzer des gesamten Aostatals.


La Tchavana – in großen Lettern prangt es am alten Steinhaus aus Walserzeiten und beherbergt heute Restaurant und Pension.

La Fontina (Ayastal / Aostatal)

Etwas höher gelegen, dafür nicht minder interessant, offenbart sich die Alm La Tchavana als wahres Eldorado für Käseliebhaber. In den Räumlichkeiten direkt daneben sind nämlich Stall, Verkaufsraum und Molkerei untergebracht. Hier wird nicht irgendein Käse produziert, sondern Fontina. Weit über die Grenzen des Aostatals hinaus verwöhnt diese Köstlichkeit so manchen Gaumen und macht vom ersten Bissen weg abhängig. Das wissen auch die Hoteliers der Umgebung zu schätzen und erwerben hier regelmäßig ganze Laibe. Alles zum Wohl ihrer Gäste.

La Tchavana weiß mit einer Besonderheit aufzutrumpfen. Im Nachbargebäude untergebracht wird die Milch der hauseigenen Kühe zu leckerstem Fontina, einem Weichkäse aus biologischem Anbau, verarbeitet.

Die knapp 35 Kühe stehen fast das ganze Jahr auf den umliegenden Wiesen und bekommen somit nur beste Weidekräuter zu fressen. Selbst im Winter haben sie die Möglichkeit, der Enge des Stalls zu entfliehen. Auf industriell gefertigte Zusatznahrung wird verzichtet, genauso wie auf die Gabe von Antibiotika oder anderen Medikamenten. Jeden Morgen werden die Kühe gemolken, auch am Wochenende. Noch warm kommt die Milch direkt in die Molkerei und wird begonnen, daraus den leckersten Käse herzustellen. Mehr als Bio also. Und das schmeckt man auch.

„La Fontina d’alpeggio D.O.P.“ aus dem Haus „La Tchavana“ ist weit über die Grenzen des Ayastals hinaus bekannt.

Tägliches Streicheln und Wenden inklusive – der Fontina braucht sehr viel Zuwendung.

Zwischen dem Melken der Kühe und der Weiterverarbeitung liegen nur wenige Minuten. Wiese, Stall und Käserei liegen allesamt im gleichen Haus.

La Fontina d’alpeggio D.O.P. von Weidekühen – ein ganz besonderer Geschmack.

Drei Monate reift der Fontina in den kühlen Kellern, die das ganze Jahr über eine gleichbleibende Temperatur verfügen. Ideal für das Reifen der Käselaibe.


Bereits von Weitem erkennt man die Belvedere Introd, eines der Markenzeichen des kleinen Ortes Introd.

Tascapan (Aostatal)

Eines der wohl spannendsten Projekte des gesamten Aostatals jedoch dürfte das Projekt „Tascapan“ sein. Zu Füßen des mächtigen Gran Paradiso gelegen ist es in einem der ursprünglichsten Bauernhäuser der Region beheimatet. Das heutige Ethnographische Museum Maison Bruil lässt erahnen, wie die Bauern über Generationen hinweg im Einklang mit Natur und Vieh gelebt haben. Verschachtelt über mehrere Etagen und verwinkelte Treppen gelangt man vom Stall im Erdgeschoss über Bauernstube und Küche in die Schlafräume unterm Dach. Ausgefeilt wurde so gerade im Winter die Körperwärme des Viehs zur Heizmöglichkeit fürs ganze Gebäude. Absolut sehenswert.

Eigentliches Markenzeichen des Ortes jedoch ist das in der Maison Bruil heimische Projekt Tascapan.

Darüber hinaus ist Tascapan aber mehr. Unter seinem Dach vereint das Projekt eine Vielzahl landwirtschaftlicher Produzenten, die – zumeist familiengeführt – jede für sich die Traditionen des Aostatals weiterleben lassen. Mathieu Champetravy heißt der junge Unternehmer, der nach erfolgreichem Studium den genossenschaftlichen Gedanken aufgriff und mit seinen knapp 30 Jahren feste Größen des Aostatals unterstützt und vereint. Denn eines ist sicher: Gemeinsam ist man stärker als allein. Jeder der unterschiedlichsten Landwirte und Handwerker trägt einen kleinen Teil dazu bei, Tascapan lässt es zur vollen Größe reifen. Davon überzeugen kann man sich im kleinen Shop, der eine Vielzahl der im Aostatal ausgestellten Produkte für den käuflichen Erwerb präsentiert.

Von der Landwirtschaft bis zur Weinkellerei – bei Tascapan sind vielerlei Anbieter vertreten.

Abwechselnd werden den Besuchern des Museums im Aostatal ansässige Unternehmen vorgestellt. Die Freude ist groß: heute ist Apfeltag im Tascapan. Ähnlich einer Weinprobe erfahre ich Vorzüge und Nachteile der unterschiedlichen Apfelsorten, gewinne einen Einblick in Produktion und Handwerk. Bei der Manufaktur Saint Grat wird ein längst verschollen geglaubter Apfel hochgelobt – der Renetta. Aus ihm produzieren Ivo und sein Sohn Michel den leckersten Apfelsaft, den ich je getrunken habe. Doch nicht nur das. Auf den knapp sieben Hektar großen Obstwiesen wachsen auch die bei uns bekannten Sorten Golden Delicious, Royal Gala und viele andere mehr. Mit viel Liebe und Hingabe haben sie es geschafft, ihr Unternehmen stark zu machen. Auch und dank der Unterstützung des Projekts Tascapan. Über dessen Webseite lassen sich die Produkte nämlich bestellen und nach Hause liefern.

Die Apfelsorte Renetta galt bislang als zu sauer für den Verzehr und zu klein um Großes daraus zu machen. Die Azienda Agricola Saint Grat hat ihn wiederentdeckt und keltert seit Jahren den besten Apfelsaft, den ich je getrunken habe.

Vorzüge des innig geliebten Renetta erfährt man am besten von Ivo, Eigentümer des Apfelgartens Saint Grat.

Ähnlich einer Weinprobe komme ich in den Genuss, die verschiedenen Apfelsaftsorten direkt vor Ort zu probieren.


-> Wie geht es weiter? Im nächsten Artikel wandere ich entlang altertümlicher Wasserwege.
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Weitere und ausführliche Informationen findet man auf der Webseite des Tourismus-Portals vom Aostatal – Valle d’Aosta, bei denen ich mich gleichzeitig für die Unterstützung auf Reise & Wanderung bedanken möchte.

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