Torres del Paine – Notizen

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1. Tag – 18 Kilometer

Schritt für Schritt folgen wir einem Pfad, der wie ein dunkler Faden in der hügeligen Graslandschaft liegt. Mein Kopf ist vom Wind zu Boden gezwungen. Im Westen erhebt sich ein erloschener Vulkan. ›Du gehst schnell‹ sagt Achsa, als sie wieder aufschließt und wir beide uns an einen Busch setzen. ›Ich gehe durch Gedanken‹ sage ich – ohne zu antworten. Das Gras flieht gebückt vor den Böen. Sie wüten. Hände und Wangen sind kalt, und rot – die Nase tropft. Am Ufer eines edelsteinfarbenen Flusses liegen Südbuchen: Gebrochen, gekrümmt, umeinander geschlungen, entwurzelt, zerstückelt. Im Norden erheben sich die Cuernos del Paine. Behäbig wirken sie – wartende Elefanten. Über ihre Buckel stechen die wärmenden Granen der Sonne. Die noch üppige Vegetation überrascht mich. Der Herbst nämlich neigt sich seinem Ende.

An einem Aussichtspunkt machen wir Rast, Möhren essend. Wir haben wenig mit. Wenig, da wir nicht wissen, wie lange wir im Park bleiben werden. Wir sind wie benommen: Märchenhaft wachsende, flammende Südbuchen am Ufer türkisfarbener Lagunen. Schwebende Kondore. Coirón-Gras, würdevoll beschienen. Und natürlich die Cuernos del Paine, um die sich eine über Tausend Meter hohe Banderole aus Granit gewickelt hat. Westwärts thront, mit dunklem Gestein schwer beleibt, der Cerro Paine Grande. Die Wolken stauen sich auf seinem Westhang, bis sie schließlich den Gipfel erreichen. Dort reißt sie der Westwind rücksichtslos über scharfen Stein, von wo sie dann in Fetzen ins Tal fallen.

Nach 18 Kilometern erreichen wir einen Camping-Platz. Er ist kostenpflichtig. Da es aber bereits dämmert und das nächste kostenfreie Areal zweieinhalb Stunden entfernt ist, bauen wir unser Lager dennoch auf. Inmitten von Büschen. Kurz darauf kommen zwei Park-Ranger: Wir müssten schon zahlen, sagen sie. Aber sie sagen es, wie Leute etwas sagen, das sie eigentlich nicht sagen wollen. Achsa versucht sie zu überreden – sie wird zum ›Chef‹ geschickt. Schließlich dürfen wir doch umsonst unter freien Himmel schlafen – Frauenbonus.

Es gibt Kartoffelpüree aus der Tüte mit Würstchen aus der Tüte. Zum Dessert einen grünen Apfel. In Vorfreude auf den Sonnenaufgang schlummre ich bald ein.

2. Tag – ›Wolken machen die Welt klein‹

… stöhnt Achsa auf. Der Wind hat in der Nacht gedreht. Mein Zelt schlackert, Wasser dringt durch. Es ist grau, hoffnungslos grau. Unser Frühstück, das ist Haferkleie mit Apfel und Honig, sowie schwarzer Kaffee. Es klärt nicht auf. Der Regen trommelt. Gleichmäßig wie ein Metronom. Wir gehen los.

Nach fast drei Stunden im strömenden Regen – lediglich Ñirre und Lenga-Wälder gewähren uns Schutz – finden wir eine Holzhütte. Achsa ist schlecht gelaunt – der Regen. Wir kochen Kaffee, essen jeder zwei Kekse und Möhren. Wir überlegen unser weiteres Vorgehen: Der Aufstieg ins im Norden gelegene Tal ist unter diesen Bedingungen unsinnig. Wir wollen warten, aber nicht länger als zwei Stunden. Meine Schuhe werden langsam nass. Meine Jacke ist dicht. Noch. Nach und nach trudeln mehr unzufriedene Wanderer in der Hütte ein. Manche frieren sichtlich. Achsa macht mir Reis, da ich noch immer Hunger verspüre. Ich wärme mich an ihm. Sie zeigt sich mütterlich, obwohl ich das nicht möchte. Sie selbst isst nur wenig. Wir freuen uns über blaue Lücken, aber die Wolken sind fleißige Schneider. Achsa bereut keinen Whiskey dabei zu haben.

Wir brechen auf. Im strömenden Regen. Achsa beginnt zu nerven. Es ist so blödsinnig über Wetter zu schimpfen, auch wenn es uns diktiert. Ich selbst finde keine Ruhe, hunderte und doch kein einziger Gedanken wiegen in mir. Der Regen, gleichmütig und stoisch fällt er vom Himmel, weicht mich auf. Wir machen keine Pausen. Aber nicht weil wir nicht müde wären. Das Beste gegen Kälte ist Bewegung. Der Himmel bleibt grau. An einem Kiesstrand wüten heftigste Böen. Der Wind jagt die Gischt übers Wasser. Die Kimm verschwindet in ihr. Die Bäume dieser Bucht sind mit dem Wind gewachsen. Es kostet Mühe diesen Abschnitt zu passieren. Immer wieder – wie ein sich überschätzender Boxer – setzt der Wind uns zu.

Der Camping-Platz ist teilweise überflutet. Knöcheltiefe Pfützen, auf denen Laub schwimmt. Immerhin: Der dichte Bewuchs schützt vor Wind. Diejenigen, die hier ankommen, suchen Schutz unter Traufen oder Markisen, unter denen sie ihre Kleidung aufhängen, oder sich Tee kochen. Das Refugio ist geschlossen. Am Hang stehen Bungalows. Zwei junge Leute aus Deutschland und ein Este, die wir schon im Refugio kennenlernten, suchen nach einer besseren ›Möglichkeit‹. Ich suche derzeit mit Achsa nach Unterschlupf. Das Gelände ist groß, dicht bewachsen. Viele Schuppen, alle aber verriegelt. Schließlich finden wir eine Tür, die sich öffnen lässt: Der Raum misst etwas mehr als einen halben Meter in der Breite und ungefähr zwei Meter in der Länge. Wenn man denn die Waschmaschine raushieven kann. Achsa holt ihre Sachen. Ich inspiziere nochmal das Gelände und treffe die beiden Deutschen wieder. Ganz außer sich berichten sie von einem bereits aufgebrochenen Bungalow. Dort stünden Matratzen herum und es wäre trocken. Ich begleite sie und mache Freudensprünge – ein Geschenk des Himmels. Wir alle sind durchfroren, mürbe und müde vom Unwetter, fürchten und befürchten also nichts. In einem Nachbarbungalow befinden sich Toiletten, wo ich meine Kleidung aufhänge, denn der Schlafbungalow ist bereits vollbehangen. Wir zünden eine Kerze an. Achsa bereitet Tomaten-Suppe zu, wir bekommen Brot gereicht. Dann gibt es Nudeln, Thunfisch aus der Dose mit Tomatensauce aus der Tüte. Aber Achsa kocht gerne, und das schmeckt man – sie weiß die einfachsten Dinge zu verfeinern. Die Fenster beschlagen. Auf dem Boden krabbeln zwei münzgroße Spinnen. Durchs Gebälk tropft es.

Ich muss auf Toilette. Dass man das Wasser abgestellt hat, stelle ich danach fest. Im Dunkeln suche ich nach einem Eimer. Ich finde einen, unten am Fuße des Berges. Ich schöpfe Wasser, oberhalb der Bungalows, am Wasserfall. Dass der Eimer siebt, stelle ich erst jetzt fest.

Achsa trinkt einen Wodka, die jungen Leute haben schließlich eingeladen. Ich werde wach und bekomme auch einen Schluck. Er schmeckt fürchterlich. Aber mir wird warm. Der Wind rüttelt am Haus. Welch Glück wir haben.

3. Tag – Lago Nordenskjöld

Ich kann es kaum glauben, als ich im Fenster die entblößten Spitzen der Zebra-Berge sehe, so hat Achsa sie getauft. Sie denkt bildhaft, kindlich. Obwohl das Wetter schön ist, starten wir spät. Achsa ist müde und will sich nicht stressen. Sie ist es dann aber doch: Beim Wasser holen, ist sie ins Wasser gefallen. Sie schleudert ihre Schuhe in eine Ecke und macht mir Vorwürfe, dass ich sie nicht vor den glitschigen Steinen gewarnt hätte. Hier in der Natur zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen, denke ich.

Immer wieder bleiben wir stehen. Die Landschaft begeistert uns. Am gegenüberliegenden Ufer schichten sich Berge übereinander. Auf der Oberfläche der Lagune tanzt die Gischt: Zwei Wirbel kreiseln auf dem Wasser, aufeinander zu und voneinander ab. In ihren Bewegungen schimmern Regenbögen. Die Vegetation gleicht der Tundra und je höher wir steigen, umso kleiner wird die Flora. Der Wind ist nicht mehr so stark. Die Berge schützen uns. Am heutigen Tag bin ich kraftlos, mehrfach rutsche ich aus und halte mich dabei an Büschen fest. Dornenbüschen. Ich vermute die einseitige Ernährung. Mehr und mehr träume ich von Erdnüssen, exotischen Früchten, heißer Milch mit Honig, Putenfleisch und Eiern. Wir überqueren Rinnsale und Ströme. Später streifen wir durch eine Kuhweide auf der kniehohes Bartgras wächst. Kühe sind scheu. Ihre Blicke erinnern mich an die Blicke der Kohlköpfe in den Ämtern Deutschlands.

Obwohl es noch hell ist, das Wetter sonnig und mild, beschließen wir erneut an einem Refugio halt zu machen. Auch dieses Refugio ist saisonbedingt geschlossen. Fenster und Türen sind mit Wellblech beschlagen. Hier ist Windschatten. Das ist sicher. Bereits von hier sehen wir die Torres del Paine. Wir trocknen unser Zelt und finden auf dem Gelände Styropor, das wir unter unsere Isoliermatten legen, Schnüre, mit denen wir das Zelt stabilisieren, mit Laub gefüllte Säcke, die als zusätzliche Windschutz dienen und einen Spaten. Der Wind streichelt durch den immergrünen Wald. Aber ist ein trügerisches Streicheln, ein Streicheln, dass geheuchelt, verlogen ist – ja, dieser Wind versteckt etwas.

Zu Abend gibt es Pilzsuppe aus der Tüte. Dann Nudeln mit Erbsen aus der Dose und Tomaten-Sauce aus der Tüte.

4. Tag – Ein Tag im Zelt

Achsa weckt mich. Und nein, ihr Tonumfang hat nicht die Eignung in einem Frauenchor die Sopranstimme zu übernehmen: Da wo der Zeltboden nicht mit Styropor ausgelegt ist, ist Wasser durchgesickert. Fingernageltief. Ihr Rucksack ist nass, unsere Schuhe und mein Schlafsack am Fußende auch. Regen. Ich könnte kotzen: Heute wollten wir zu den Torres del Paine hinauf. Der Regen hört nicht auf. Er hat mehr Geduld als wir. Ich muss raus, versuche mit dem Spaten Kanäle zu ziehen, da steigende Pfützen unser Zelt wegzuschwemmen drohen. Ich stoße auf Stein. Nach wenigen Handgriffen spüre ich meine Hände kaum mehr. Kälte. Ich fixiere das Zelt noch fester, lege neue Laubsäcke dazu und schichte andere um.

Ein Tag kann lang werden, wenn man ihn, in ein und derselben Position, mit der ein und derselben Person, und auf der ein und derselben Stelle verbringen muss. Wir liegen. Und dösen. Und schlafen. Und liegen. Achsa nörgelt, sie erinnert mich an ein Kind, das nicht weiß, was es tun soll. Ich schlage vor, sie solle in Gedanken spazieren. Dann schlafe ich wieder. Die Stunden sind zäh wie Honig. Das lernt man hier, in der Natur: Geduld und Verständnis für ihr Unverständnis Gnade walten zu lassen. Wir essen aus Langeweile. Unsere Mägen quittieren das mit entsprechenden Winden. Achsa bezeichnet meinen Odeur als menschenverachtend. Sie bereut keinen Whiskey mit dabei zu haben.

Gegen Nachmittag geht Achsa raus. Es regnet noch immer. Vehementer ist er nun. Sie zieht neue Kanäle. Sie benutzt den Spaten energisch, wütend. Das Wasser steigt. Dahingehend bin ich optimistisch, nein, fauler. Sie umschichtet das Zelt mit weiteren Styroporplatten. Abends trifft eine Gruppe Argentinier ein. Alle sind nass. Nasser als Wasser. In der Eingangspforte des Refugios kochen sie Suppe, trinken Whiskey und rauchen. Man bietet mir eine an. Ich sage nicht nein. Der erste Zug macht mich schwindelig und lässt mich in den Strudel des Stadtlebens tauchen: Meine Freunde, der Kneipenterrorismus, der Sexorismus, die zum Tag gemachten Nächte, Tänze um bengalische Feuer, Museen, türkische Küche, eine warme Plastikklobrille.

Wir sehen Sterne. Und ich so viele, wie noch nie, sogar die Milchstraße. Wir freuen uns. Morgen wird ein Tag ohne Wolken. Und bevor auch Achsa schlafen geht, will sie noch eine Sternschnuppe sehen.

5. Tag – Weiß

Wir stehen früh auf. Es muss sein, wenn wir die Torres del Paine sehen und noch heute den Bus zurück nehmen wollen. Ich habe Rückenschmerzen. Stille, das Licht ist müde. Beim Öffnen des Zeltes erschrecken wir: Schnee. Kniehoch. Achsa äußerst Skepsis. Ich bin dennoch motiviert. In der Dunkelheit brechen wir auf und mit jedem Schritt werde auch ich pessimistischer: Der Schnee ist nass, Bachüberquerungen schwierig, die Auf- und Abstiege rutschig. Über Nacht scheint der Himmel zur Erde hinab gestiegen zu sein.

Als das Tageslicht durch die Wolkendecke quillt geben wir unsere Hoffnung auf. Nach eineinhalb Stunden drehen wir um. Der Himmel wird nur dort blau, wo keine Berge sind. Aber enttäuscht bin ich nicht. Vielleicht nur gleichmütig. Achsa freut sich dennoch: Sie schüttelt Geäst, bewirft mich mit Schneebällen. Ich versuche das Wort ›Scheiße‹ in den Schnee zu pissen, komme aber über das ›S‹, dass letztlich einer ›8‹ ähnelt, nicht hinaus.

Wir überlegen eine Nacht noch auszuharren. Zurück im Zelt wollen wir uns Kaffee kochen. Aber die Gaskartusche nimmt uns die Entscheidung ab: Sie ist leer. Wir bauen unser Lager ab. Mein Körper ist schwächer als mein Geist: Die Kälte hat mir Handschuhe aus Eisen übergestreift. Ich kann mich noch so sehr anstrengen. Meine Zehen sind taub. Ich zittere innerlich. Wie einfach das Leben bei den Menschen doch ist. Vielleicht aber deswegen flüchten so viele Menschen vor anderen Menschen.

Wir steigen ab, unterschreiten die Schneedecke, sehen endlich wieder Farben. Wir haben Glück: Auf unserem Rückweg zur Busstation, in der Nähe der Parkwache sich befindet, nimmt uns ein gesprächiger Busfahrer mit. Umsonst. Frauenbonus. Er bringt uns sogar bis nach Puerto Natales. Im Fenster erblicken wir Kondore, die sich um einen Kadaver scharen. Im Gegenlicht zeichnet sich der Schattenriss eines Guanacos ab. Dann schlafe ich ein.


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