Top-Ökonomen gehen die Argumente für den Kapitalismus aus

Ich bin ja immer wieder erstaunt, wie unglaublich schlicht die großen Geister der aktuellen Ökonomie denken, wenn ich einmal mehr über einen ihrer Artikel stolpere. Heute gab es in der Financial Times Deutschland in der Reihe „Die Top-Ökomomen“ einen Kommentar von Kenneth Rogoff. Rogoff ist Professor an der Harvard Universität und ehemaliger IWF-Chefökonom und sein Artikel war mit „Argumente für den Kapitalismus“ überschrieben, was mich neugierig machte. Was kann man angesichts des aktuellen Desasters denn noch für an Argumenten für die Ursache dieses Desasters ins Feld führen?

Bei genauem Hinsehen: keine. Rogoffs Hauptargument dafür, dass es mit dem Kapitalismus weiter gehen müsse, ist die originelle Behauptung, dass bislang kein praktikabler Ersatz bereitstünde. Die unumstößliche Wahrheit sei, dass die einzigen ernst zu nehmenden Alternativen für diesen Kapitalismus andere Formen des Kapitalismus seien. Der kontinentaleuropäische Kapitalismus mit seinen großzügigen Sozialversicherungssystemen beweise allerdings gerade seine mangelnde Lebensfähigkeit. Dann muss also ein andrer her. Allerdings ist sich Rogoff auch nicht sicher, dass der darwinistische Kapitalismus, den die Chinesen gerade exerzieren, ein Zukunftsmodell sein könnte, denn China entwickele sich momentan zu schnell, als das schon absehbar sei, wohin diese Entwicklung führe. Ist das jetzt ein Argument dafür oder dagegen?

Doch nun geht es erst einmal zurück: Rogoff behauptet, dass der moderne Kapitalismus in seiner jetzt 200-jährigen Geschichte seit den Anfängen der industriellen Revolution Milliarden Menschen aus bitterster Armut befreit habe. Diese Behauptung findet sich trotz erdrückender Gegenbeweise bei so ziemlich allen zeitgenössischen Top-Ökomomen – obwohl ein älterer Top-Ökonom in seinem Hauptwerk diese Behauptung bereits eindrucksvoll widerlegt hat: Im Kapital hat Karl Marx nachvollziehbar beschrieben, wie der Kapitalismus Millionen von Menschen in bitterster Armut hält, eine Armut, wie sie zuvor unbekannt war, weil die meisten Menschen früher in der Lage waren, sich mit dem, was sie zum Leben brauchten, selbst zu versorgen. Genau das verhindert der Kapitalismus aber – und darin ist er sehr erfolgreich. Wenn man sich auf der Welt umsieht, dann muss man beide Augen wirklich fest zu kneifen, um das Elend nicht zu sehen, in dem Millionen, Milliarden Menschen existieren müssen, damit der Kapitalismus weiterhin funktionieren kann.

Die desaströse Bilanz von einer Milliarde hungernder Menschen angesichts einer geradezu absurden Überproduktion kann auch ein Kenneth Rogoff dem Marxismus bzw. dem „plumpen Sozialismus“ nicht in die Schuhe schieben. Auch wenn er einfach mal behauptet, dass diese Alternativen zum Kapitalismus ja wohl eindeutig die desaströsere Bilanz aufzuweisen hätten. Den Beweis bleibt er seinen Lesern schuldig – wohl wissend, das die ihn gar nicht einfordern werden, denn jeder, der etwas auf sich hält, weiß natürlich, dass Kommunismus, Marxismus und plumper Sozialismus zu gar nichts anderem führen können, als zu desaströsen Bilanzen. Ich will an dieser Stelle überhaupt nicht leugnen, dass es auch eine Menge Opfer von Systemen gibt, die von sich behauptet haben, marxistisch, kommunistisch oder sozialistisch gewesen zu sein. Aber wenn ich mir die Hochzeit des Stalinismus ansehe, die gleichzeitig dem Erstarken des Faschismus in Europa stattgefunden hat, dann muss ich doch feststellen, dass die Opfer des Faschismus – mit dem die Kapitalisten übrigens kein Problem hatten, schließlich haben sie gut an den Kriegen verdient – ja wohl die des Stalinismus bei weitem übersteigen. Obwohl ich auch für stalinistische Systeme keine Lanze brechen will. Ich denke auch nicht, dass Marx mit Stalin einverstanden gewesen wäre.

Davon abgesehen, kann man hundert Mal darauf verweisen, dass auch die angeblich völlig ineffiziente DDR es geschafft hat, ihren Bewohnern vielleicht kein superluxuriöses, aber doch ein sicheres und bequemes Leben zu bieten, samt Gesundheitsvorsorge, Kinderbetreuung, überdurchschnittlicher Bildung und breitem Kulturprogramm für alle. Ja, aber es fehlte an Freiheit! Na und? Ist ein Hartz-IV-Empfänger etwa frei zu tun, was ihm beliebt?! Nein! Was nützt es einem, wenn man nach Mallorca fahren darf, aber kein Geld zum Leben hat? Obwohl ich auch gar nicht behaupten will, dass der plumpe Sozialismus, der bisher zu besichtigen war, besonders erstrebenswert sei. Aber der plumpe Kapitalismus ist es auch nicht! Der hat es, wie Rogoff auch bemerkt, ja nicht mal geschafft, „öffentlichen Gütern wie sauberer Luft oder sauberem Wasser in effektiver Weise einen Preis zuzuweisen“. Und was nichts kostet, wird bekanntermaßen nicht geschätzt, deshalb wird es auch nichts mit der Bekämpfung des Klimawandels, den der Top-Ökonom immerhin nicht leugnet.

Als weiteres Problem gibt Rogoff zu, dass der Kapitalismus ein großes Maß an Ungleichheit produziere. Allerdings ist das für ihn kein existenzielles, sondern eher ein – wie soll ich sagen – psychologisches Problem. So behauptet er, dass niemand sich über den Erfolg eines Steve Jobs beschwere, dessen Leistungen ja wohl offensichtlich seien. Aber auf andere erfolgreiche Kapitalisten sei man halt doch neidisch. Insofern ist eher der Neid der Loser das Problem, nicht der Reichtum der Erfolgreichen. Und das soll jetzt ein Argument für den Kapitalismus sein? Ich weiß nicht.

Als weiteres Problem identifiziert Rogoff die Bereitstellung und Verteilung von medizinischen Versorgungsleistungen. Bei diesen handele es sich um einen Markt, in dem Preismechanismen keine wirtschaftliche Effizienz schaffen. Das ist natürlich übel – das darf in einem ordentlichen kapitalistischen System eigentlich gar nicht passieren. Trotzdem passiert es und es ist noch viel schlimmer: Moderne kapitalistische Gesellschaften führen Kampagnen durch, um ihre Bürger dazu zu bewegen, mehr auf ihre Gesundheit zu achten, während sie gleichzeitig ein wirtschaftliches Ökosystem fördern, das viele Verbraucher zu einer enorm ungesunden Ernährung verleitet. Das ist nicht nur ironisch, wie Rogoff konstatiert, es ist zynisch, ja, es ist menschenverachtend. Und die ganzen Lebensmittelskandale sind nur Symptome der Krankheit: Solange man Geld damit verdienen kann, kommt jeder Scheiß auf den Markt, egal wie ungesund er ist. Denn je kranker die Leute werden, desto besser für die Gesundheitsindustrie – aber nur für diese, denn alle „normalen“ Arbeitgeber haben natürlich lieber kerngesunde, topfitte Mitarbeiter. Genau wie die Krankenkassen am liebsten nur gesunde, junge Menschen versichern. Damit kommen wir zu einem vierten Punkt, in dem ich auch wieder kein Argument für, sondern nur gegen den Kapitalismus entdecken kann: Die heutigen kapitalistischen Systeme würden das Wohl kommender Generationen „in enormer Weise zu niedrig“ bewerten.

Das ist noch ziemlich nett ausgedrückt angesichts der Tatsache, dass es ihnen scheißegal ist. Die kommenden Generationen bekommen tonnenweise Atom-Müll, überhaupt Giftmüll in allen erdenklichen Formen und Mengen, verseuchte Meere, verwüstete Landschaften und als Zugabe noch einen rasanten Klimawandel – ohne irgendeinen Gegenwert! Außer vielleicht der Erfahrung, dass Menschen einfach nicht in der Lage sind, auch nur eine Generation weiter zu denken.

Rogoff behauptet nun, dass das seit der industriellen Revolution auch keine Rolle gespielt hätte, „da die fortgesetzten Segnungen des technologischen Fortschritts über kurzsichtige politische Strategien triumphierten.“ Im Großen und Ganzen sei es doch jeder neuen Generation deutlich besser als der vorherigen gegangen. Nun sind wir aber ganz offensichtlich an der historischen Wendemarke angelangt, an der das nicht mehr der Fall ist: Die erste Generation, der es schlechter gehen wird, als der Elterngeneration ist längst geboren. Das postuliere ich jetzt einfach mal. Ich habe dafür keine schlagkräftigeren Beweise als Rogoff sie für seine Thesen hat, aber angesichts der Tatsache, dass die Leute in Deutschland heute durchschnittlich weniger verdienen als vor 10 Jahren und mehr in die sozialen Versicherungssystem einzahlen müssen, als sie rausholen werden, dürfte das nicht allzu strittig sein.

Rogoffs Argument, dass sich bei einer Weltbevölkerung von sieben Milliarden Menschen und immer knapper werdenden Ressourcen nicht mehr garantieren lasse, dass es allen künftig besser gehen wird, will ich dagegen ganz ausdrücklich anzweifeln – es liegt nun wirklich nicht daran, dass die Ressourcen so knapp sind und die Menschen zu viele. Das hat er ja selbst widerlegt, mit seinem Vortrag, wie ungeheuer leistungsfähig und produktiv der Kapitalismus doch sei. Es ist genug für alle da! Gut, nicht genug, dass alle Steve-Jobs-mäßig unterwegs sein können, aber für ein Leben oberhalb des absoluten Existenzminimus reicht es locker.

Aber es fehlt an vernünftigen Sozialismus, um den Reichtum, den Überfluss, der produziert wird, auf alle zu verteilen. Und der Markt, das beweisen die bisherigen Krisen, ist ein verdammt schlechter Verteiler. Der Markt ist launisch, unberechenbar, ja, er reagiert oft genug geradezu widersinnig, wenn er nicht gleich versagt: Er funktioniert nicht. Wir brauchen keinen hohen weltweiten Preis für Kohlenstoff, wie der marktfixierte Top-Ökonom vorschlägt, wir brauchen überhaupt keine Preise mehr für irgendwas. Wir brauchen Züge, Schiffe und Laster, um das ganze Zeug, das die Menschen brauchen, effektiv verteilen zu können. Wir brauchen Menschen, die gerne tun, was sie tun, weil sie damit sich und den anderen helfen. Wenn es glücklich macht, gebraucht zu werden, wie die Werbung für den Bundesfreiwilligen-Dienst behauptet, wozu braucht es dann Boni und Aktienoptionen? Es gibt praktikable Alternativen zum Kapitalismus. Die werden nur ziemlich ungemütlich für die derzeit gut verdienenden Top-Ökonomen. Und deshalb tun sie so, als sei alles außerhalb ihres begrenzten Horizonts unmöglich. Aber nachvollziehbare Argumente haben sie keine. Natürlich nicht.



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