Tonfilm-Seitensprung: Die moderne Welt als Gefängnis

A NOUS LA LIBERTÉ
Frankreich 1932
Mit Henri Marchand, Raymond Cordy, Rolla France, Paul Ollivier u.a.
Regie: René Clair
Dauer: 90 min.

Tonfilm-Seitensprung: Die moderne Welt als Gefängnis

In meiner Reihe mit Filmen des französischen Regisseurs René Clair bin ich nun beim Tonfilm angelangt. A nous la liberté ist allerdings nicht Clairs erstes klingendes Filmwerk, sondern sein drittes, es war jedoch das einzige, das für mich auf DVD zur Zeit greifbar war.

Einen gewissen Bekanntheitsgrad hat dieser Film heute noch, hauptsächlich deshalb, weil er Ursache einer Plagiatsklage von René Clairs Produktionsfirma Tobis gegen Charles Chaplin war. Die berühmte Fliessband-Sequenz aus dessen fünf Jahre später entstandenem Film Modern Times hätte Chaplin bei Clair abgekupfert, liess Tobis verlauten.

In der Tat sind die Parallelen augenfällig. Man könnte durchaus glauben, Chaplin hätte Clairs Idee aufgenommen und in höherem Tempo durchgespielt. Hier wie dort sieht man eine Reihe Fabrikarbeiter, die auf einem Fliessband vorbeiziehende Teile um jeweils eine Komponente ergänzen müssen; dabei hat jeder einen einzelnen, immer gleichen Handgriff auszuführen. Beide Szenen wollen die Stumpfheit der Massenproduktion verdeutlichen.

Es könnte durchaus sein, dass Chaplin die Idee bei Clair abgeguckt hat, obwohl er vor Gericht beteuerte, A nous la liberté nie gesehen zu haben.
Was bei Clair mit anarchischem, durchaus charmantem Witz „nur“ die Absurdität der maschinellen Produktion vorführt, gerät bei Chaplin zur galligen Anklage der Entmenschlichung der Fabrikarbeit. Die Idee, dass am Fliessband mal einer in Rückstand gerät, hat bei Clair eine wachsende Menschenansammlung zur Folge, die dem einen Teil am Fliessband folgt, welches durch den Rückstand nicht korrekt zusammengesetzt werden konnte. Bei Chaplin führt dasselbe menschliche Versagen direkt in den Bauch des Molochs Maschine – eine Idee, die er wiederum bei Fritz Langs Metropolis abgekupfert haben könnte.

Könnte, hätte, würde… Möglicherweise ist der Plagiatsvorwurf hinfällig – eine Diskussion darüber erscheint mir müssig: Chaplin, Clair und Lang haben in ihren Filmen Bilder verwendet, die sich den Menschen jener Zeit geradezu aufdrängten. Der Moloch Maschine, der Mensch am Fliessband – sie waren von Anfang an Symbole des Industriezeitalters, Chiffren für die Mechanisierung des Produktionsvorganges. Sie lagen quasi “in der Luft”.
René Clair selbst distanzierte sich von Tobis’ Plagiatsklage. Er hatte nach eigenen Aussagen grosse Hochachtung vor Chaplin.

Man könnte den Plagiatsvorwurf auch umdrehen: In A nous la liberté steckt sehr viel Chaplin. Überdeutlich wird dies in der Figur des Émile, der in seiner poetisch naiven Gewitztheit wie eine französische Version des Tramps wirkt. Henri Marchand, der mit diesem Film auf der Leinwand debütierte und danach nur noch Nebenrollen bekam, verschmilzt praktisch mit dieser Rolle und prägt den Film mit seiner staunenden Kindlichkeit.

Betrachtet man A nous la liberté als Beitrag zu einer Kunstform, die gerade einen tiefgreifenden Wandel durchmachte, dann stellt man fest, wie experimentierfreudig und innovativ sein Regisseur von der neuen Tontechnik Gebrauch machte.
Im Prinzip tut er hier nichts anderes als in seinen frühen Stummfilmen Entr’acte und Paris qui dort, wo er mit den filmischen Mitteln experimentierte: Er probiert aus und erweitert dabei die Grenzen der filmischen (hier: der tonfilmischen) Mittel. Wie seine Kollegen Fritz Lang und Alfred Hitchcock begegnet Clair dem Ton im Film mit innovativer Neugierde und nimmt in einigen seiner Experimenten dessen Zukunft vorweg – dies zu einer Zeit, wo “Tonfilm” weitgehend “talking heads” bedeutete; Publikum und Produzenten genügte es in der Anfangszeit, sprechende Schauspieler zu zeigen.

Es gibt in A nous la liberté Sequenzen, wo der Regisseur mit Geräuschen, die scheinbar aus dem Nichts kommen, Spässe mit dem Publikum treibt, oder Stellen, wo die Protagonisten ihren Text plötzlich singen. Die Musik spielt sogar eine tragende Rolle in diesem Film, denn immer wieder begleitet und kommentiert sie die Handlung – eine Rolle, mit der sie sich erst einige Jahre später im Film etablieren sollte (die ersten Tonfilme verzichteten weitgehend auf Musik, da dem gesprochenen Wort eine Wirkung beigemessen wurde, die es, wie man bald merkte, auf der Leinwand einfach nicht hatte).
Das Bild ordnet sich immer mal wieder der Musik unter, nämlich dann, wenn sich die Figuren in witzigen Choreografien zum Takt bewegen.

Gesprochen wird nach wie vor wenig, und auch da tanzt Clair aus der Reihe: Statt dem Wort vorbehaltlos Platz einzuräumen, liefert er einen Stummfilm mit Musikbegleitung und Geräuscheffekten ab – jedenfalls streckenweise. Einen musikalischen Geräuschfilm – oder einen geräuschbegleitetes Musical.

Die Handlung dreht sich rund ums Thema Gefängnis, das der Film richtiggehend auslotet. Zwei Freunde unternehmen einen Ausbruchsversuch aus dem Knast, den allerdings nur der eine, Louis schafft. Émile bleibt zurück, weil die Wache die beiden zu früh entdeckt hat.
Im Zeitraffer wird gezeigt, wie Louis sich zum Konzernchef hochgaunert. Seine Firma stellt übrigens Schallplatten her, womit sich Clairs Tonfilm gleich selbst thematisiert (die ersten Filmtöne kamen ab Schallplatte).

Als Emile entlassen wird, findet er ausgerechnet in der Firma seines Freundes Arbeit. Doch zu seinem Schreck muss er feststellen, dass Louis’ Fabrik nur ein weiteres Gefängnis ist, in dem sogar das Mittagessen vom Fliessband gegessen wird. Sogar die Liebe erscheint als ein Gut, das unerreichbar weggesperrt ist – verkörpert von der von Émile angehimmelten Jeanne, die von ihrem Onkel auf Schritt und Tritt wie von einem Gefängniswärter bewacht wird.

Schliesslich appelliert Émile an die menschliche Seite Louis’ und überredet ihn am Schluss zu einer weiteren, endgültigen Flucht in die Freiheit. Zuvor aber gibt dieser auch seinen Arbeitern die Freiheit zurück, die er ihnen mit seiner Fabrik zuvor genommen hat: Indem er den Produktionsvorgang vollständig automatisiert und so den Menschen überflüssig macht. Die Schlusssequenz zeigt eine heile Welt von massenweise am Fliessband vorbeiziehenden Grammophonen, glücklichen, angelnden Arbeitern – und Paul und Emile, die als Landstreicher das Weite suchen. Wie einst Charlie Chaplin in seinem Kurzfilm The Tramp.

A nous la liberté ist ein charmantes Stück poetischer Realismus aus Frankreichs früher Klangfilmzeit und besticht – wie eigentlich alle Filme dieses unterschätzten Regisseurs – durch seine liebevoll-charmante Charakterzeichnung und durch die hohe Originalität, mit der seine Geschichte erzählt wird.
9/10

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A nous la liberté ist bei Criterion Collection in den USA erschienen, bestellbar ist er u.a. über amazon. com.

http://www.amazon.com/Nous-Liberte-Criterion-Collection/dp/B000067IY4/ref=sr_1_1?s=movies-tv&ie=UTF8&qid=1320147679&sr=1-1


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