Tonfilm-Seitensprung: Chaplins ehrenvolles Scheitern

Erstellt am 26. Januar 2011 von Michael

THE GREAT DICTATOR
USA 1940
Mit Charles Chaplin, Paulette Goddard, Reginald Gardiner, Henry Daniell, Billy Gilbert u.a.
Regie: Charles Chaplin
Dauer: 120 min

The Great Dictator muss damals ziemlich quer in der amerikanischen Filmlandschaft gestanden haben. Vergleicht man ihn mit anderen bekannten US-Kinowerken jener Zeit, dann findet man wohl auf Anhieb keines, das derart offen, direkt und erbarmungslos satirische Hiebe gegen ein real existierendes Staatsoberhaupt – oder irgendeine andere Person des öffentlichen Lebens – führte und dabei weitgehend auf die damals gängigen Konventionen von Komödie und Drama (strahlend schöner und/ oder smarter Held aus dem Upperclass-Milieu macht seinen Weg) verzichtete.
Statt dessen im Mittelpunkt: Ein freilaufender Irrer, dem zudem jegliche Intelligenz abgeht einerseits, andererseits ein armer Schlucker aus, der herumgeschubst wird.

Doch weist Chaplins Dictator mit seiner Unangepasstheit in die Zukunft des Kinos? Der Part im Ghetto greift die z.T. von Chaplin selbst etablierten Konventionen des Stummfilm (ärmliche Verhältnisse als Thema, gesellschaftliche Verlierer im Mittelpunkt) wieder auf und ist somit rückwärtsgewandt. Der Diktator-Teil ist da interessanter und bringt tatsächliche etwas Neues und Unerhörtes ins US-Kino ein: Satire. Chaplin stellt das Ziel seines Spotts praktisch unverhüllt in den Mittelpunkt des Films und reitet böse Attacken gegen Hitler, gegen dessen politische Unbedarftheit und seine manische Prunksucht. Einige Filmhistoriker attestieren Chaplin, mit diesem Film die Tür im sich gegenüber Deutschland neutral gebenden Amerika für weitere Anti-Nazi-Attacken aufgestossen zu haben. Zur Regel wurde das allerdings nicht; Chaplin hatte sich mit dem Dictator auch erbitterte Feinde innerhalb Hollywoods gemacht, die ihn bezichtigten, Amerikas Werte verraten zu haben.
So setzte sich die Politsatire im US-Film vorerst nicht wirklich durch, der Production Code wachte weiterhin über Werte und Verfehlungen in Hollywoods Filmen. Trotzdem dürfte The Great Dictator, der zu Chaplins bislang erfolgreichstem Film avancierte, Massstäbe für eine spätere Generation von US-Regisseuren gesetzt haben.

Doch, und einige Leser werden dieses doch bereits erwartet haben, doch aus der zeitlichen Distanz betrachtet greift Chaplins Spott angesichts seines Objektes und angesichts der menschlichen Katastrophe, die Adolf Hitler war und angerichtet hat, zu kurz und mutet geradezu hilflos an. Die Kernfrage ist: Kann, soll man einem Völkermörder und seinem mörderischen Apparat mit Satire begegnen? Ich persönlich meine nein und ich stosse mich an Chaplins Darstellung – nochmals: aus der zeitlichen Distanz heraus betrachtet. Satire deckt Misstände auf oder prangert diese an, indem sie satirisch überhöht werden. Adolf Hitler und sein Regime einen Missstand zu nennen, kommt einer Verniedlichung gleich.

Bei aller filmhistorischen Bedeutung vermag The Great Dictator künstlerisch nicht wirklich zu überzeugen. Er scheitert, wenn auch in Ehren, am hoch gesteckten Ziel, und daran, dass der Film dank der zwei disparat nebeneinander her laufenden Teile (rückwärtsgerichtete sentimentale Milieustudie und satirische Überhöhung) keine Einheit bilden und daran, dass Chaplin die beiden unvereinbaren Teile zu unguter Letzt in einem gewollten Kraftakt zusammenzuführen versucht, was in einer pathetischen, mit pathetischen Bildern unterlegten Rede naiven Inhalts gipfelt, die inhaltlich am Ziel vorbeischiesst und den Film so mit einer Peinlichkeit beschliesst.

Natürlich ist Chaplins erster Tonfilm in seiner Gesamtheit (den Schluss ausgenommen) äusserst unterhaltsam und komisch. Einzelne Sequenzen sind sogar hervorragend gelungen und gehören zum Besten, was Chaplin je auf die Leinwand gebracht hat. Die Satire ist an einigen Stellen tatsächlich ätzend, an einer schmerzt sie sogar wirklich (wo die Juden zwischenzeitlich wegen eines Darlehens tolereiert werden). In seiner Gesamtheit ist The Great Dictator um Längen besser als der Vorgänger Modern Times. Doch wird der Film den Gräueln und den Ungeheuerlichkeiten in keinem Moment gerecht, die im Dritten Reich begangen wurden. Aber das ist mit Hilfe des Zwitters Unerhaltungsmedium/Kunstform namens Film letztlich wohl gar nicht möglich.
9/10 (filmhistorische Bedeutung)
7/10
(Wertung der rein filmischen Gegebenheiten)

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