Auf die Überraschung hätten die Protagonisten in Thomas Kadelbachs Roman „Tombola“ im ersten Schreck gut verzichten können. Und der gute Zweck war auch nicht erkennbar, als vier Personen im Belgrader Flughafen jeweils einen fremden Koffer vom Rollband schnappten, der dem eigenen zum Verwechseln ählich sieht.
Im Gegenteil: Marco Bianchi bemerkt im Hotel entsetzt, dass er seine Rede im Kongress nun aus dem Gedächtnis wird halten müssen, Frau Casagrande vermisst ihre stilgemäße Abendgarderobe fürs Dinner, Immobilienmakler steht beim Besichtigungstermin womöglich ohne Dossier vor den Interessenten und Tanja weiß ich nimmer.
Fieberhaft setzen die unfreiwilligen Besitzer neuer Koffer alle Hebel in Bewegung, um den richtigen, den eigenen Koffer mit den so dringend benötigten Unterlagen und Kleidungsstücken zurück zu bekommen. Die Anspannung der Protagonisten ist fast körperlich zu spüren. Doch der Leser ahnt es schon: bei den Massen an Flugpassagieren und vermissten Koffern, fördern die Nachforschungen wenig brauchbares zutage.
Immerhin: ein Alex Kapsopulos hat sich bei der Gepäckausgabestelle des Belgrader Flughafens gemeldet. Er habe einen falschen Koffer und stehe für eine Übergabe zur Verfügung. Seine Handynummer wird zur Hoffnung für beide Koffervertauscher, die wir bisher kennen gelernt haben.
Der Wissensvorsprung für uns Leser, dass nämlich von Herr Kapsopulos maximal eine Person ihren eigenen Koffer zurück bekommt, entpuppt sich als wenig erfreulich: mit einem letzten Funken Hoffnung, bangen auch wir, Marcos Koffer mit dem Kongress-Manuskropt möge bis zum Kongress-Beginn auftauchen.
Aber dann doch bitte in letzter Sekunde, bevor er das Rednerpult besteigt? Nein. Der Koffer bleibt verschwunden.
Aufbäumend fühlen wir mit, wie sich der Misserfolg anschleicht und erleben niedergeschlagen, wie der unpassend gekleidete Mitarbeiter des statistischen Amtes Zürich beim Fachpublikum für Unverständnis und Langeweile sorgt und emotional völlig aus der Bahn gekegelt wird.
Der anderen ergeht es nicht besser: Frau Ex-Botschafterin Casagrande verbringt bei ihrer Ankunft im Hotel direkt eine Nacht im defekten Fahrstuhl, bevor auch sie in ihrem Hotelzimmer den Irrtum entdeckt und fassungslos nach ihrem Koffer fahnden lässt.
Durch fehlende Besitztümer fast der eigenen Identität beraubt, erlebt auch sie eine bisher einzigartige Situation, kann – aufgrund des fortgeschrittenen Alters oder der größeren Weltläufigkeit? – zunächst gelungener improvisieren als Marco und betritt doch plötzlich ebenfalls einen neuen, fast surreal anmutenden Wirklichkeitsraum, der etwas von einem verschlingenden Abgrund oder bedrückendem Vakuum hat.
Wenn schon der eigene Koffer nicht rechtzeitig auftaucht, löst es wenigstens ein bisschen die Spannung und wirkt wie eine Befreiung, dass die beiden Irritierten, in der mehr oder weniger fremden Stadt Verlorenen, wenigstens in den vertauschten Koffer hinein schauen. Die Tombola ist eröffnet!Was gibt es zu gewinnen?
Zunächst kaum merklich, dann immer deutlicher entfalten die Fundstücke ihre lebensverändernde Wirkung und je mehr sich Marco, Frau Casagrande und auch Herr Kapsopulos und die Vierte im Bunde – eine Sprachlehrerin wie wir später erfahren – in die quälende Situation hinein entspannen, sich ihr im Grunde ergeben, um so überraschender sind die Wege und Wendungen, die sich der „Strom des Lebens“ bahnt:
Auf einem ausrangierten Passagierschiff am Donau-Ufer, treffen die Gestrandeten schließlich aufeinander und es entsteht eine resignative Fruchtbarkeit, die zu nichts weniger führt, als zur Frage nach dem ganz subjektiven Sinn des Lebens.
Tombola ist ein durchaus leiser Roman, der zuerst etwas sperrig-konstruiert wirkt, dabei sehr präzise und fein nuanciert daher kommt, unaufdringlich tief- und hintersinnig wird, und immer mehr mit einem Humor fesselt, der mal perlend wie Champagner, mal süßsauer wie Zitronen schmeckt.
Für mich eine der inspirierendsten und vergnüglichsten Neuerscheinungen der vergangenen Monate.
Thomas Kadelbach „Tombola“, 250 Seiten, Hardcover, 22 Euro, Offizin Verlag