Im Mittelalter und weit darüber hinaus gab es die großen öffentlichen Disputationen, bei denen zwei Gelehrte mit ihren „Thesen“ vor großem Publikum um die Wahrheit rangen, oder wenigstens darum, den besseren Eindruck zu hinterlassen. Heute gibt es Podiumsdiskussionen und Fernsehduelle, aber im akademischen Bereich ist die Tradition ausgestorben – so dachte ich bis zum vergangenen Donnerstag.
Marie, eine Sportstudentin aus Togo, hatte Br.Cyrille und mich zu ihrer „defensa“, „Verteidigung“ eingeladen. An einem Tisch ihr gegenüber saß das dreiköpfige „Gericht“. Mit demselben spanischen Wort („tribunal“) wird auch ein Gericht bezeichnet, vor dem Mord und Totschlag verhandelt werden. Daneben ein zweiter Tisch mit dem „tutor“ („Beschützer“ oder „Aufpasser“) und dem „oposidor“, dem „Gegner“. Dahinter war der Raum bis auf den letzten Platz mit Kommilitonen und Freunden gefüllt, ganz hinten auf einem Tisch standen schon der riesige Kuchen mit der togolesischen Fahne aus Zuckerguss (Foto unten; hat nicht ganz so gut geschmeckt, wie er aussah) und andere Geschenke. Auch die Wand hinter Marie war mit einer Fahne Togos geschmückt; vor der Tür ließ eine brasilianische Fahne schon ahnen, zu welcher Nation der nächste Prüfling gehören würde. Marie gab mit Hilfe einer Präsentation auf dem Bildschirm ihres Notebooks (ein Beamer war nicht vorhanden) eine 16-minütige Zusammenfassung ihrer „tesis“ (wir würden statt „These“ eher „Diplomarbeit“ sagen) über die „Auslese von jungen Talenten für den Sprung der Länge in Lomé, der Hauptstadt Togos“. Danach versuchte der „Gegner“, ihr Fehler nachzuweisen, aber er war sehr zahm. Das „Gericht“ stellte weitere Fragen, als Marie bei einer Antwort „ins Schwimmen kam“, sagte die Fragestellerin schnell, „Ja, gut, das genügt schon“, offensichtlich wollte niemand sie blamieren. Die eigentlichen Prüfungen hatten auch schon vorher stattgefunden, dies war nur der feierliche Abschluss, bei dem es auch nicht störte, als ein Student sich direkt zwischen Prüfling und „Gegner“ stellte, um den „Gegner“, der gerade sprach, zu fotografieren. Am Schluss stand der Tutor auf, verlas sein Gutachten, das er schon vorher fertig gestellt hatte, und in dem er Maries positive Eigenschaften mit einem so deutlich betonten „Gott sei Dank“ verband, dass ich den Eindruck hatte, er wolle der aktiven Katholikin eine Freude machen und der alten Tradition huldigen, am Schluss einer Disputation Gott zu nennen.
Dann wurden alle hinausgeschickt, das Gericht beriet, und Marie erhielt eine Fünf. Zum Glück ist das auf Kuba die beste mögliche Note, Eins oder Zwei bedeuten „Nicht bestanden.“
Heinrich Heine, Die Disputation zu Toledo
Togolesischer Weitsprung vor mittelalterlichem Gericht
Autor des Artikels : rsk6400
Zum Original-ArtikelErlebnisse eines deutschen Mönchs im Alltag auf Kuba.