Tocotronic: Gemeinsame Sache

Tocotronic: Gemeinsame SacheTocotronic
Support: Ilgen-Nur
Tonhalle, München, 12. April 2018
Je länger man einer Band in unbedingter Hingabe folgt, desto mehr nimmt man deren Konzerte in einer zusätzlichen Dimension wahr. Es sind also nicht nur Sound, Licht, Körper, die Aufmerksamkeit beanspruchen, es läuft zu jedem der Songs vor dem inneren Auge auch ein ganz persönlicher Film ab. Zu welcher Zeit, an welchem Ort, unter welchen Umständen und mit wem hat man dieses Stück gehört, wo ist es in der Zeit verankert, mit welcher Bedeutung aufgeladen, was verbindet man damit? Nennen wir es nicht Content, sagen wir Erinnerung dazu. Tocotronic sind so eine Band, sie haben in den fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens eine so große Anzahl dieser erinnerungswürdigen Songs verfasst, daß die Auswahl der Setlist für einen Abend wie diesen nur unvollständig bleiben kann. Und so bleibt auch in der ausverkauften Halle des ehemaligen Partyghettos Kunstpark, das jetzt den etwas verträglicheren Namen Werksviertel trägt, so manche Seite des imaginären Fotoalbums geschlossen und eine andere wiederum öffnet sich überraschenden Einsichten.
Zu den Liedern des aktuellen Albums "Die Unendlichkeit" wird es, zumindest bei den Thirtysomethings im Publikum, noch nicht so viele Sehnsuchtsmomente und Vergangenheitsbezüge geben, dennoch sind sie natürlich auf dieser Tour in der Mehrheit und fügen sich, da sie ja selbst als Tagebuch der Band und vor allem des Sängers Dirk von Lowtzow konzipiert sind, bestens in das Restprogramm ein. Mit der Ouvertüre "Tanz der Ritter" aus Prokofjews Ballett "Romeo und Julia" untermauern die Herren aus Hamburg einmal mehr ihren Ruf als eigenwillige Meister des Diskurspop, danach wird es schnell, hart und laut und die Bildershow kommt ans Laufen - "Let There Be Rock", "Drüben auf dem Hügel", "Kapitulation". Die Menge gibt sich trotz Platzmangels und stickiger Luft angenehm entspannt, von Lowtzows gewohnt exaltierte Gutmütigkeiten werden ebenso begeistert begrüßt wie jedes einzelne der Stücke.
"Es gab noch keine Handys, es war alles Gegenwart", so heißt es im Titelsong der neuen Platte. Und tatsächlich - keine Wand aus hochgereckten Smartphones, auf die man vor der Bühne starren muß, statt dessen Halbgreise (so werden wir wohl andernorts despektierlich genannt), die unter ihresgleichen Spaß am Crowdsurfing finden, ausgelassener Jubel, ja: echte Dankbarkeit, auf beiden Seiten. Selbst die Parolen kommen von Herzen, man ist unter sich und weiß sich vereint in der seltsamen Haßliebe zum Heimatland: "Aber hier leben, nein danke!" Auf den Punkt deshalb von Lowtzows Liebeserklärung, Tocotronic wären nicht denkbar ohne ihre Anhänger, und jeder da unten weiß für sich, daß dieser Satz in der Umkehrung genauso gilt. Schnell noch eine WhatsApp an die Daheimgebliebenen, irgendwas mit "Sehnsucht" und "better than ever" (sorry, über die Schulter gespickt), dann besselten Blickes zurück in's Getümmel, noch mal ein Kübel Spott für "Freiburg" - aus. Sie haben, es war deutlich zu hören, "bis zum nächsten Mal" gerufen am Schluss. An uns soll's nicht liegen. Wir werden da sein.

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