Wo hört Europa im Osten auf? Wo beginnt Asien? In der georgischen Hauptstadt Tiflis liegt die Antwort zwischen orthodoxen Kirchen, morbiden Jugendstil-Villen und hedonistischen Nachtclubs.
Tiflis - Wer die Wirklichkeit beschreiben will, heißt es, muss ganz nah ran. In einer winzigen Begebenheit zeigt sich manchmal eine große Wahrheit - oder sie ist reiner Zufall, und den Rest macht der eigene Kopf. Das Dilemma des Reporters ist, dass er ständig das sprechende Detail aufkratzen muss, das die ganze Geschichte erklärt.
So kann sich der Charakter eines Ortes erschließen in der sanftmütigen Geste eines Gastwirtes oder auch im aggressiven Blick eines jugendlichen Stressmachers. Nah ran, das Detail finden! Doch um die Wirklichkeit einordnen zu können, ist gleichfalls das Gegenteil nötig: maximal herauszoomen. Und auf eine Stadt schauen wie die Kamera eines Satelliten.
Wirft man nach der Rückkehr aus Tiflis einen Blick auf die Weltkarte, stellt man fest: Die östlichste Metropole Europas von sehenswertem Format ist nicht Moskau. Vieles spricht für die Hauptstadt Georgiens südlich des Großen Kaukasus in Vorderasien.
Tiflis mit seinen orthodoxen Kirchen und Jugendstil-Villen ist zweifelsohne europäisch. Die Georgier nennen ihr Land den Balkon Europas. Zugegeben, das würde man wiederum kaum vermuten, wenn man bloß in den Atlas schaut. Dafür muss man hinfahren.
Touristen sind selten zu Besuch in Tiflis, was auf eine sträfliche Mischung aus Ignoranz und Unwissenheit zurückzuführen ist. Dabei wird es dem Gast aus Deutschland einfach gemacht, sich in Georgien gleich sehr willkommen zu fühlen.
Bei der Ankunft am internationalen Flughafen stempelt die Dame von der Einreisebehörde ordnungsgemäß den Pass. Dann reicht sie lächelnd eine Flasche georgischen Rotwein über den Tresen. "Welcome to Georgia", sagt sie. Ja bin ich denn schon angesoffen, denke ich kurz - doch keineswegs. Die Georgier betrachten ihren Wein mit seiner 7000 Jahre alten Geschichte fast wie ein nationales Heiligtum. Und die Flasche ist eine symbolische Willkommensgeste für Besucher aus jener Europäischen Union, zu der Georgien gerne gehören würde. Et voilà: das erste kleine Detail, das viel erzählt über die große Politik.
Es ist Abend, ein Taxi bringt mich vom Flughafen in die Stadt. Der Fahrer brettert erst über die Stadtautobahn und dann weiter über die George W. Bush Street. Der ehemalige US-Präsident und Irakkriegsverbrecher lächelt gütig von einem Plakat. In weiten Teilen der Welt ist der Texaner aus nachvollziehbaren Gründen verhasst, nicht aber hier in Georgien. Er versprach dem kleinen Land einst die Mitgliedschaft in der NATO (woraus jedoch bis heute nichts wurde, weil man die Russen nicht verärgern möchte).
Bush Junior winkt also in die georgische Nacht, der Taxifahrer rast so schnell, als könnte es mit der Westbindung gar nicht schnell genug vorangehen, und langsam wird es albern mit den sprechenden Details, so kurz nach der Ankunft. Die nächtliche Innenstadt ist ruhig und schwül, warmer Asphalt. Die kaukasische Sommerhitze kühlt nicht ab.
Vom zentralen Freiheitsplatz geht es am nächsten Morgen ins Altstadt-Viertel Sololaki: erste Eindrücke sammeln. Die Jugendstil-Häuser sind von Rissen durchzogen, manche nicht mehr bewohnt und halb eingestürzt. Der Anstrich auf Mauerwerk und Türen ist an vielen Stellen abgeplatzt, oft liegt der Backstein frei. Ausladende Fensterrahmen sehen aus wie von Säure zerfressen. Hübsch sind die Pastellfarben, die langsam verschwinden, und kunstvoll geschmiedet die Geländer der Balkone, die hoffentlich nicht hinabstürzen. Stromkabel an jeder Ecke. Die altehrwürdigen Stadtvillen wirken so morbid, als taugten sie nur noch als Kulisse für ein schwermütiges Melodram.
Wie konnte es dazu kommen? Die Kommunisten fanden den Jugendstil dekadent. Die Unfähigkeit der postsowjetischen Regierungen tat ihr übriges. Weil die Georgier die Altstadt nicht besser Instand halten, verweigert die UNESCO eine Auszeichnung als Weltkulturerbe. Sololaki versprüht den Charme einer herrschaftlichen europäischen Residenzstadt, die vom nachlässigen Monarchen leider aufgegeben wurde.
So sehr die Stadt Teile ihres architektonischen Erbes verkommen lässt, so kühn sind die Bauprojekte der jüngeren Zeit. Die futuristische Friedensbrücke über die Kura zum Beispiel, erbaut von einem italienischen Stararchitekten, zeigt abends interessante Lichteffekte. Das Innenministerium erinnert entfernt an eine gläserne Schlange, die neue Feuerwache an ein Ufo. Die erst vor wenigen Jahren errichtete Sameba-Kathedrale im armenischen Viertel musste natürlich der größte Sakralbau Transkaukasiens werden.
Das alles ist merkwürdig und bizarr, passt aber zu einem Land, dass sich einen radikalen Modernisierungskurs verordnet hat. Abseits der Städte ist davon freilich nicht allzu viel zu spüren. In Tiflis wechseln sich brutaler Verfall und kompromissloser Fortschritt ab. Dazwischen bewegt sich der Besucher und bleibt etwas ratlos zurück.
Tiflis war immer schon ein Scharnier zwischen Europa und Asien, gelegen an der berühmten Seidenstraße. König Wachtang I. Gorgassali machte die Stadt im 5. Jahrhundert zur Hauptstadt Georgiens, als Teil des Römischen Reiches. In den Jahrhunderten danach fiel so ziemlich jede kontinentalasiatische Großmacht ein: Araber, Perser, Byzantiner, Seldschuken, Choresmier, Timuriden, Türken, wieder die Perser.
Wie in jeder Stadt, die vom Handel lebt, standen die Tore für Menschen jeder Herkunft und Religion offen. Ökonomischer Pragmatismus. Über der Stadt thront Kartlis Deda, die Statue der "Mutter Georgiens". Sie hält ein Schwert für die Feinde in der Rechten und eine Schale mit Wein für den Gast in der Linken. Marco Polo pries Tiflis als "herrliche Stadt" - der Mann ist eine Instanz. Man hat sogar einen Reiseführer nach ihm benannt.
Russland marschierte 1799 ein und blieb bis zum Ende der Sowjetunion. Nach der Oktoberrevolution erklärte sich Georgien zwar kurz unabhängig. Doch das ging nur drei Jahre gut, dann stand der Russe wieder auf der Matte. Wer heute mit der Standseilbahn auf den Mtazminda-Berg zum 274 Meter hohen Fernsehturm hinauf fährt, kann die Wohntürme aus Sowjetzeiten in den Vororten in ihrer ganzen deprimierenden Zweckmäßigkeit überblicken. Auch das gehört zu Europa, keine Frage.
Die Wirren nach dem Zerfall des Ostblocks sorgten dafür, dass Georgien lange Zeit kein Ziel für Reisende blieb. Bis zur Rosenrevolution 2003 grassierten Kriminalität und Korruption (heute ist Tiflis so sicher wie Berlin). Im Kaukasuskrieg 2008 kämpfte das Land wegen der abtrünnigen Republiken Abchasien und Südossetien fünf Tage mit Russland, was dem Fremdenverkehr ebenfalls nicht gerade zuträglich war. Der Krieg war auch ein Grund dafür, sich noch einmal verstärkt Europa zuzuwenden.
Und europäisches Flair versprüht Tiflis an vielen Orten im Zentrum. Der Botanische Garten oben bei der alten Festung Narikala war einst bekannt für die schönsten Orchideen des russischen Kaiserreiches. Er wurde maßgeblich von einem Deutschen erweitert: dem Botaniker und Landschaftsarchitekten Heinrich Scharrer.
Wer im noblen Stadtteil Vake in einem Café an der Irakli-Abashidze-Straße den Tag vergehen lässt, kommt sich vor wie in Rom. Feiner Kaffee, Gebäck. Die urigen Kellerstuben rund um die Zionskirche in der Altstadt mit ihrem warmen Licht erinnern wiederum an Prag. Hier lassen sich die typischen georgischen Teigtaschen (Chinkali) und das gebackene Käsebrot (Chatschapuri) zu einem kräftigen Saperavi genießen. Wer es weniger volkstümlich mag, besucht die schicke Organique Josper Bar, das Purpur oder das Famous.
Die jungen Georgier, die selbstverständlich Englisch sprechen und schon im Ausland waren, trifft man zum Beispiel im Moulin Electrique. Dort sehe ich Erik wieder, einen Norweger, der mir in einer Berghütte oben im Kaukasus begegnet ist. Sein Reisebegleiter wurde leider schrecklich höhenkrank und lag zwei Tage nur auf seiner Isomatte herum. Er ist nicht da, aber zwei Georgierinnen, die Erik kennengelernt hat: Nuka und Meko.
Die eine hat lange in London gelebt, die andere in Jena studiert. Für Reisen in den Schengen-Raum müssen sie lästigerweise Visa beantragen. Die Frage, ob sich die beiden eher Europa oder Asien zugehörig fühlen, erübrigt sich.
Wir verabreden uns abends zu viert in der Neustadt. Ich laufe also über den mondänen Rustaweli-Boulevard gen Westen. Die Hitze liegt so schwer auf dem Asphalt wie das heiße Wasser der Schwefelbäder im Stadtteil Abantubani auf dem Brustkorb. Die alten Thermalquellen haben Tiflis - eigentlich Tbilisi - seinen Namen gegeben. Dort fühlt man sich kurz wie in einem Budapester Badehaus, nur ohne das pompöse Ambiente. In Tiflis ist es nun dunkel, hinein in die Nacht.
Zuerst ein paar Bier in Canudos Ethnic Bar, dann weiter ins Gallery. Das Haus ist wie jeder gute Club von außen unscheinbar und von innen abgerockt und düster. Der Electro knallt ziemlich hart und monoton aus den Boxen. Die meisten feiernden Menschen tragen Schwarz, den Einheitslook der urbanen Technojugend. Freundschaftsschwüre mit Georgiern, die beteuern, ganz bald mal nach Deutschland kommen zu wollen. Auf der Tanzfläche im Gallery fühlt sich Tiflis an wie Berlin. Die Nacht endet nicht vor der Morgendämmerung.
Dass sich Georgien so stark nach Westen orientiert hat, ist maßgeblich auf die Politik des ehemaligen Staatspräsidenten Michail Saakaschwili zurückzuführen. Als er 2004 gewählt wurde, liberalisierte er den Staatssektor, zog Investoren an: Maßnahmen, die den Leuten von der Weltbank Tränen der Rührung in die Augen treiben (falls sie überhaupt Emotionen zeigen können). Saakaschwili tat unbestritten viel für die Georgier. Doch er stürzte später über die Veruntreuung von Staatsgeldern.
Meinem Stadtführer in Tiflis, Levan Giorgadze, fällt dazu nur folgendes Bonmot ein: "Wer zu lange in der Politik ist, fängt an, die falschen Dinge zu tun."
Als ich aus den Bergen zurückkehre und wieder in die Stadt hineinfahre, sehe ich ein aufschlussreiches Verkehrsschild: "Teheran 1200 Kilometer". Das ist im Vergleich zur Distanz zwischen Tiflis und Brüssel (3900 km) oder Moskau (2000 km) erstaunlich nah.
Wo hört Europa im Osten auf? Wo fängt Asien an? Eine klar definierte innereurasische Grenze existiert nicht - und auch keine kulturelle.
Tiflis liegt deutlich östlicher als Jerusalem und Damaskus, ja sogar einen knappen halben Längengrad östlicher als Bagdad. Aserbaidschan mit seiner Hauptstadt Baku liegt zwar noch weiter im Osten, ist aber geprägt vom schiitischen Islam - wobei es ja in Europa auch Länder mit großen muslimischen Bevölkerungsanteilen gibt. Es ist also schwierig. Georgien hat eine jahrhundertealte abendländisch-christliche Tradition. Die Menschen sind sehr gläubig. Bei der Frage, welches die östlichste Hauptstadt Europas ist, konkurriert Tiflis noch am ehesten mit der armenischen Hauptstadt Jerewan.
Der französische Philosoph Bernard-Henri Levy hat gesagt, Europa sei "kein Ort, sondern eine Idee." Und vielleicht ist die fragile Grenze, die Europa von Asien trennt, bei aller Unschärfe tatsächlich vor allem eine politische.
Den Georgiern, die sehnsüchtig nach Westen schauen, geht es nicht um geografische Zugehörigkeit, sondern um Europa als freiheitlich-demokratisches Projekt (und natürlich um berufliche Perspektiven, aber das hängt ja zusammen). Doch für die Menschen im Land gibt noch viel zu tun. Man kann den Georgiern nur alles Gute wünschen und darauf ein Glas Saperavi erheben. Am besten in Tiflis, dieser erstaunlich europäischen Kapitale im Kaukasus.