Ein Einwurf von Karin Burger. Karin Burger hat im Juni 2009 hier im Blog bereits einen sehr lesenswerten Artikel zur Lage der Deutschen Dogge veröffentlicht. Sie ist eine der ersten Unterstützerinnen des Dortmunder Appels für eine Wende in der Hundezucht und beschäftigt sich kritisch mit dem Geschehen unter der Flagge des "Tierschutzes".
Seit Ende September 2010 ist er da: Der bisher größte Tierschutzskandal aller Zeiten. Eine auf vereinsloser Ebene agierende "Tierschützerin" sammelt in einer ihr von der prominenten Fernsehmoderatorin Sonja Zietlow vermieteten Immobilie mit Hilfe von Tierfreunden, Tierschützern und Tierschutzvereinen rd. 70 Hunde, die sie vollkommen verwahrlosen lässt. Zum Zeitpunkt der Aufdeckung des Skandals watet man im Haus nahezu knietief durch Dreck und Kot. Die Hunde waren oft ganze Tage vollkommen sich selbst überlassen. In einer Grube hinter dem Haus findet man jede Menge Hundekadaver. Eine umfassende Dokumentation mit Bildern, Videos und vielen Zeugenaussagen findet sich auf: http://www.derzarenhofinfo.com/.
Seit über vier Wochen tobt die Diskussion über den Skandal Zarenhof. Und die Verantwortung wird zwischen den Beteiligten hin- und hergeschoben wie eine verwurmte Kotprobe, ohne dass sich jemand zur Wurmkur entschließen könnte. Konstruktive Ansätze in der Diskussion über die Vorgänge sind bisher nicht zu erkennen. Die gesamte Diskussion geht bisher nur in des Tierschützers liebste Richtung: Empörung, Schuldzuweisung und Aktionismus!
Deshalb muss spätestens jetzt eine breite, engagierte und ernst gemeinte Diskussion darüber beginnen, wie man strukturell Tierschutz im 21. Jahrhundert so ändern kann, dass solche und andere Furchtbarkeiten nicht mehr oder nicht mehr so häufig vorkommen.
Und dieser Diskussion liefert Doggennetz ein Thesenpapier. Diesen Thesen muss man nicht zustimmen. Im günstigsten Fall sollte sich aber über diese Punkte eine Diskussion entwickeln.
1. These: Kontrolle und Transparenz
Dass politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe zum einen einer vereinbarten Kontrolle unterworfen sein müssen, zum anderen für alle Außenstehenden transparent sein müssen, ist inzwischen gesellschaftlicher Konsens - außerhalb des Tierschutzes! Und besonders im Fundraising-Bereich, zu dem auch der Tierschutz gehört, ist Kontrolle und Transparenz schon längst das, was Stefan Loipfinger von Charity-Watch.de als "Branchenstandard" bezeichnet.
"Kontrolle" bedeutet nicht ausschließlich die Kontrolle durch die entsprechenden Fachbehörden wie z. B. die Veterinärämter. Kontrolle geschieht auch durch "leichtere" Strukturen wie z. B. eine Vereinsorganisation. Auf der praktischen Ebene führt dieses anerkannte Instrumentarium dann zu dem Entschluss, nur noch Vereine oder andere gesetzlich definierte Rechtsformen zuzulassen und zu unterstützen.
Kontrolle und Transparenz bedeuten des Weiteren, sich an bestehende Gesetze zu halten. Beim Thema Auslandstierschutz ist es de facto momentan so, dass eine nicht unerhebliche Anzahl von Tierschutzorganisationen an den bestehenden Gesetzen (Binnenmarkt-, Tierseuchen- schutzverordnung, Tierschutzgesetz etc.) vorbei Tiere aus dem Ausland einführen. Das ist schlicht illegal und lässt sich mit keinen moralischen Verweisen rechtfertigen. Wer die bestehenden Gesetze, z. B. die Kategorisierung "gewerblich" für jegliche Tiereinfuhr von Tierschutzorganisationen, hier für unzureichend hält, muss sich auf parlamentarischer Ebene um Änderungen bemühen.
2. These: Professionalität
Tierschutz im 21. Jahrhundert hat eine Dimension erreicht, der man auf der Basis rein ehrenamtlichen Engagements ohne jede (professionelle) Qualifikation nicht mehr gerecht wird. Fort- und Weiterbildung ist in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen schon längst eine Selbstverständlichkeit. Warum nicht im Tierschutz?
Organisatorisch ist das überhaupt kein Problem. Es gibt genügend Anbieter sachkundiger Fortbildung. Die Tierschutzakademie des Deutschen Tierschutzbundes ist hier zu nennen; die verschiedenen Institutionen, die professionell auf die Sachkundeprüfung vorbereiten; kynologische Fachorganisationen, die zertifizierte Absolventen hervorbringen und ein breites Themenspektrum an Vorträgen, Workshops und Seminaren anbieten.
Es muss zum selbstverständlichen "Branchenstandard" werden, dass Verantwortliche und Agierende von (eingetragenen) Tierschutzorganisationen auf ihrer Website eine Liste ihrer Qualifikationen und absolvierten Seminare veröffentlichen. Wer dies nicht tut, wer dies nicht vorweisen kann, disqualifiziert sich selbst.
Unter der Leitorientierung von Professionalität kann es dann eben nicht mehr sein, dass Tierschützer zu der von ihnen geschützten Tierart weder über eigene Empirie noch über irgendwelche Qualifikationen verfügen.
Wenn Tierschützer sich die für ihr Engagement notwendigen Fachkenntnisse aneignen, dann können sie auch ihre Aufgaben professionell erledigen. Und das fängt ganz banal und ganz anspruchsvoll bei professionellen Vor- und Nachkontrollen an!
Das bitterste Thema, welches unter den Leitorientierungen Kontrolle, Transparenz und Professionalität komplett auf den Prüfstand muss, ist das Pflegeplatz-System. Das nämlich funktioniert aus genannten Gründen viel zu häufig nicht: Kontrolle ist in dem definitionsgemäß privaten Bereich der Menschen, die sich als Pflegeplatz anbieten, nur bedingt möglich. Ebenfalls an den privaten Status gebunden ist das Defizit an Sachkunde. Leider hat die Rechtsprechung hier auch die ursprüngliche Forderung eines Sachkundenachweis für Pflegeplätze gemäß § 11 Tierschutzgesetz wieder zurückgenommen.
3. These: Primat des gesunden Menschenverstandes
Der Tierschutz insgesamt muss weg von der gesellschaftlich auch nicht akzeptierten übersteigerten Emotionalität. Wenn die Tierschützer wieder vernünftiger werden, dem gesunden Menschenverstand Raum geben und zeitgleich eine gesunde Portion Skepsis entwickeln, werden sie viele Dinge aufdecken, bevor sie wie im Fall Zarenhof eskalieren.
Auf der pragmatischen Ebene führt dieses Primat des gesundes Menschenverstandes zusammen mit der Professionalität dann zwangsläufig dorthin, die pseudo-privaten Tierhaltungen von Tierschützern zahlenmäßig drastisch zu begrenzen. Wo genau man die Grenzen setzt, muss diskutiert werden.
Das Primat des gesunden Menschenverstandes muss dann auch zu einer kritikfähigen Haltung gegenüber den Angeboten der Veterinärmedizin führen. Unter Rückgriff auf Professionalität und eigene Grundkenntnisse zu den elementarsten physiologischen Zusammenhängen befähigt ein gesundes Maß an Skepsis Tierschützer dazu, diese Angebote erst einmal kritisch zu überprüfen.
Eine ordentliche Portion Menschenverstand und gesunde Skepsis sind vor allem auch bei der Rezeption dessen angebracht, was uns die Medien so alles unter dem Label "Tierschutz" offerieren. Wenn sich im Kontext mit dem Zarenhof Tierschützer auf die mediale Berühmtheit der Animal-Hoarderin herausreden, dokumentiert das einen erschütternden Kinderglauben daran, wie man ins Fernsehen kommt: Exzellente Beziehungen und sich selbst gut verkaufen können, das sind die Schlüssel zu medialer Berühmtheit, nicht aber ethische Vorzüglichkeit und qualitativ guter Tierschutz!
Und nicht an letzter Stelle fällt unter das Primat des gesunden Menschenverstandes das ausnahmelose Verdikt des Personenkults, wie er überall im Tierschutz anzutreffen ist. Personenkult ist ein Merkmal totalitärer und faschistischer Strukturen. Schon allein deshalb verbietet sich die moralische Überhöhung von einzelnen Personen. Moderner Tierschutz muss ohne all die Pferde- und Hundeflüsterer, die Tierschutzengel, die Mutter Theresas und Doggenmamas auskommen, wenn er eine seiner wichtigsten Existenzvoraussetzungen nicht verspielen will: gesellschaftliche Akzeptanz.
4. These: Qualität statt Quantität
Sonja Zietlow hat mit einem mutigen Statement zur Qualitätsgarantie für gerettete Tiere eine Leitorientierung gesetzt: "Wenn man schon Tiere vor dem Tod rettet, dann sollte man gefälligst dafür Sorge tragen, dass diese Tiere ohne Qual und Leiden, sondern mit Würde und Anstand leben können!!! Ansonsten ist, und das ist nur meine persönliche Meinung, der Tod die bessere und mildere Alternative!" (http://www.derzarenhofinfo.com/blog-1/). Die bisherigen Handlungsorientierungen im Tierschutz verlaufen dieser klugen Einsicht diametral entgegengesetzt. Einem Bericht im WDR 5 zufolge werden jährlich zwischen 250.000 bis 400.000 Hunde von Auslandstierschützern "gerettet" und nach Deutschland eingeführt. Gleichzeitig klagt der Deutsche Tierschutzbund darüber, dass rund die Hälfte seiner Tierheime vor dem finanziellen Aus stehe.
Und dem Qualitätsgedanken muss noch auf viel breiterer Ebene Raum verschafft werden. 20 oder gar 70 frei umherlaufende Hunde in einer pseudo-privaten Tierschützer-Haltung im Haus ist keine Qualität. Qualität und Professionalität aber sind Hunde-Kleingruppen-Haltungen, wie ich sie z. B. jüngst bei der Besichtigung des BMT-Tierheims in Pfullingen sehen durfte: vier bis fünf Hunde in eigenen Gruppen mit Innen- und Außenzwinger, jeder Menge Platz und Rückzugsmöglichkeiten. Das ist Qualität!
Qualität ist nicht, wenn eine vergleichsweise kleine Tierschutzorganisation in ihrem Jahresbericht unhinterfragt angibt, über 500 Tiere vermittelt zu haben. Das ist schlichte Quantität auf dem Level von Tierhandel. Immer wieder aber liest man auf Tierschützer-Sites Vermittlungszahlen, die sich ganz offensichtlich an Quantität orientieren, um am Ethik-Markt bestehen zu können - und damit genug Spenden zu bekommen.
Den Finger am Stellhebel zwischen Quantität und Qualität haben auch die Spender, die sich weniger von Horror-Leidensgeschichten einzelner Tiere und dem Eigenlob der rettenden Tierschützer beeindrucken lassen sollten, sondern von der Erfüllung oben genannter Kriterien: Wer ist qualifiziert? Wer beweist Transparenz und legt alle relevanten Vorgänge offen? Wer handelt nach verlautbarten Ethik-Grundsätzen? Wer dokumentiert Prinzipien seiner Tierschutzarbeit?
5. These: Verbindliche Ethik-Grundsätze
Dass Politik und Gesellschaft den Tierschutz insgesamt komplett allein lassen, das wurde in verschiedenen Artikeln auf Doggennetz thematisiert. Dann müssen die Tierschützer eben selbst die Dinge in die Hand nehmen und versuchen, im gemeinsamen Diskurs für alle ihre Bereiche verbindliche Ethik-Grundsätze auszuhandeln.
Bisher können Tierschützer nur auf das dürftige Instrumentarium zurückgreifen, das ihnen die einschlägigen Gesetze und Verordnungen bieten. Ethik-Grundsätze gibt es darüber hinaus auch für den gesamten Bereich des Fundraising. Hier gilt es z. B. als verwerflich, mit besonders schockierenden Bildern zu werben, für tote Tiere Geld zu sammeln oder die Zielgruppe moralisch unter Druck zu setzen. Trotzdem geschieht solches jeden Tag auf den verschiedenen Tierschützer-Websites, in Bettelmails oder in Broschüren.
Die Moralphilosophie weiß: Ethik ist nicht teilbar. Deshalb sind Tierschützer, die sich zumindest im privaten Gespräch ganz offen zu ihrer Misanthropie (Menschenverachtung) bekennen, ein Widerspruch in sich selbst und nicht tragbar. Diese inzwischen leider innerhalb der Peergroup viel zu breit akzeptierte Grundhaltung des "Menschen sind mir egal!", muss stigmatisiert und sanktioniert werden. Wer menschlichem Leid und menschlicher Not gleichgültig gegenübersteht, kann für Tiere nichts bewegen.
Ethisch auch überhaupt nicht geklärt ist das breite Feld des Auslandstierschutzes. Hier und dort sich entzündende Diskussionen arten regelmäßig aus; verwertbare Ergebnisse gibt es keine.
Ohne jede ethische Leitorientierungen auch bleibt bislang der Umgang mit Hunden, die schon einmal oder sogar mehrfach Menschen gebissen haben. Gerade wieder erleben wir eine neuerliche Verschärfung der einschlägigen Landeshundeverordnungen, nachdem es jüngst zu weiteren Todesfällen durch Hundebisse gekommen ist. Wann endlich werden die Tierschützer auf gesellschaftliche Forderungen reagieren? Dass eine sture Verweigerungshaltung die Hunde und die betroffenen Halter nicht weiterbringt, dokumentiert der lange Weg von dem kleinen Wolkan bis zu den aktuellen Gesetzesverschärfungen.
Tierschützer haben keine Standards und keine Verfahren für solche Fälle, die allgemein als verbindlich anerkannt wären. Stellt diese Tierschutzorga den fraglichen Hund einem zertifizierten Gutachter vor, entscheidet die nächste schon wieder anders und experimentiert mit teilweise hochfragwürdigen Eigentherapiemodellen. Wieder andere gehen den ganz sicheren Weg und lassen euthanasieren - müssen dies aber so geheim halten wie einen Atomraketencode, weil sie sonst von ihren Kollegen angegriffen und bloßgestellt werden.
Zur ergebnisorientierten Diskussion über die im Tierschutz zu praktizierenden Ethik-Grundsätze gehört auch die Anerkenntnis von Leid und Tod als unausradierbare Bestandteile allen Lebens. So ein mutiges Statement, wie das oben zitierte von Sonja Zietlow, kann sich eine Fernsehprominente erlauben. Bei der herrschenden Intoleranz unter Tierschützern liefert sich jeder andere Bekenner solcher Einsichten der virtuellen Lynchjustiz aus.
6. Tierschutz als hoheitliche Aufgabe
Bis hierhin mag der Eindruck entstehen, dass die Tierschützer schlicht alles falsch machen und im unstrukturierten Dilettantismus vor sich hinschützen. Im Status quo behaupten wir das zwar für viel zu weite Bereiche des Tierschutzes so, aber auch dieser Status quo hat Gründe. Und diese Gründe entlasten den Tierschutz und seine Akteure umfassend:
Tierschutz im 21. Jahrhundert ist eine derart komplexe Aufgabe, die im Ehrenamt schlicht nicht mehr zu bewältigen ist. Das fängt an mit der Fundtierverwaltung, die als kommunale Pflichtaufgabe vom Staat in den ehrenamtlichen Bereich abgeschoben wird. Und das hört bei Lösungskonzepten für hoch problematische Hunde, die kraft Behördenakt den Haltern weggenommen, dann aber Ehrenamtlern ausgeliefert werden, noch lange nicht auf. Tierschützer sollen das alles leisten? Um dies wirklich professionell und kompetent in der extremen Komplexität der Aufgaben bewältigen zu können, müssten sie Verwaltungsrechtler, Kynopädagogen, Ernährungsphysiologen, Verhaltensbiologen, Veterinärmediziner, Steuerberater, Psychologen, Betriebswirte und Sozialpädagogen - alles in einem sein! Unmöglich!
Überdies ist Tierschutz in der Bundesrepublik Deutschland Staatsziel - und damit eigentlich eine hoheitliche Aufgabe. Politik und Gesellschaft machen es sich bisher bequem und drücken diese Mammutaufgabe komplett ins Ehrenamt ab. Für die Tierschützer resultiert daraus ganz logisch die vollständige Überforderung.
Die hier formulierten Leitorientierungen wie Kontrolle, Transparenz, Rationalität, Ethik, Professionalität können nur die Krücken auf dem weiten Weg zu dem langfristigen Ziel sein, Tierschutz als hoheitliche Aufgabe zu vergreifen und zu organisieren. Damit verknüpft sein müssen dann auch entsprechende Ausbildungs- und Studienangebote, um professionelle Mitarbeiter für alle tierschutzrelevanten Bereiche zur Verfügung zu stellen.
Wenn die breite gesellschaftliche Bewegung Tierschutz den Skandal Zarenhof zum Anlass nimmt, nach der kompletten Aufarbeitung des Falles selbst sich konstruktiv der Zukunft zuzuwenden, über die strukturelle Veränderung zu diskutieren und sie dort zu gestalten, wo sie jetzt schon möglich ist, dann ist für den Tierschutz selbst und die von ihm betreuten Tiere tatsächlich etwas gewonnen. Nur dann haben die 70 Hunde auf dem Zarenhof nicht umsonst gelitten - die toten inklusive!
(Dieser Petwatch-Artikel ist eine Zusammenfassung einer dreiteiligen Artikelserie auf www.doggennetz.de, Rubrik "aktuell & kritisch", Aua 24 bis Aua 26. Dort sind die verschiedenen Thesen noch mit mehreren Beispielen unterfüttert.)
Seit Ende September 2010 ist er da: Der bisher größte Tierschutzskandal aller Zeiten. Eine auf vereinsloser Ebene agierende "Tierschützerin" sammelt in einer ihr von der prominenten Fernsehmoderatorin Sonja Zietlow vermieteten Immobilie mit Hilfe von Tierfreunden, Tierschützern und Tierschutzvereinen rd. 70 Hunde, die sie vollkommen verwahrlosen lässt. Zum Zeitpunkt der Aufdeckung des Skandals watet man im Haus nahezu knietief durch Dreck und Kot. Die Hunde waren oft ganze Tage vollkommen sich selbst überlassen. In einer Grube hinter dem Haus findet man jede Menge Hundekadaver. Eine umfassende Dokumentation mit Bildern, Videos und vielen Zeugenaussagen findet sich auf: http://www.derzarenhofinfo.com/.
Seit über vier Wochen tobt die Diskussion über den Skandal Zarenhof. Und die Verantwortung wird zwischen den Beteiligten hin- und hergeschoben wie eine verwurmte Kotprobe, ohne dass sich jemand zur Wurmkur entschließen könnte. Konstruktive Ansätze in der Diskussion über die Vorgänge sind bisher nicht zu erkennen. Die gesamte Diskussion geht bisher nur in des Tierschützers liebste Richtung: Empörung, Schuldzuweisung und Aktionismus!
Deshalb muss spätestens jetzt eine breite, engagierte und ernst gemeinte Diskussion darüber beginnen, wie man strukturell Tierschutz im 21. Jahrhundert so ändern kann, dass solche und andere Furchtbarkeiten nicht mehr oder nicht mehr so häufig vorkommen.
Und dieser Diskussion liefert Doggennetz ein Thesenpapier. Diesen Thesen muss man nicht zustimmen. Im günstigsten Fall sollte sich aber über diese Punkte eine Diskussion entwickeln.
1. These: Kontrolle und Transparenz
Dass politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe zum einen einer vereinbarten Kontrolle unterworfen sein müssen, zum anderen für alle Außenstehenden transparent sein müssen, ist inzwischen gesellschaftlicher Konsens - außerhalb des Tierschutzes! Und besonders im Fundraising-Bereich, zu dem auch der Tierschutz gehört, ist Kontrolle und Transparenz schon längst das, was Stefan Loipfinger von Charity-Watch.de als "Branchenstandard" bezeichnet.
"Kontrolle" bedeutet nicht ausschließlich die Kontrolle durch die entsprechenden Fachbehörden wie z. B. die Veterinärämter. Kontrolle geschieht auch durch "leichtere" Strukturen wie z. B. eine Vereinsorganisation. Auf der praktischen Ebene führt dieses anerkannte Instrumentarium dann zu dem Entschluss, nur noch Vereine oder andere gesetzlich definierte Rechtsformen zuzulassen und zu unterstützen.
Kontrolle und Transparenz bedeuten des Weiteren, sich an bestehende Gesetze zu halten. Beim Thema Auslandstierschutz ist es de facto momentan so, dass eine nicht unerhebliche Anzahl von Tierschutzorganisationen an den bestehenden Gesetzen (Binnenmarkt-, Tierseuchen- schutzverordnung, Tierschutzgesetz etc.) vorbei Tiere aus dem Ausland einführen. Das ist schlicht illegal und lässt sich mit keinen moralischen Verweisen rechtfertigen. Wer die bestehenden Gesetze, z. B. die Kategorisierung "gewerblich" für jegliche Tiereinfuhr von Tierschutzorganisationen, hier für unzureichend hält, muss sich auf parlamentarischer Ebene um Änderungen bemühen.
2. These: Professionalität
Tierschutz im 21. Jahrhundert hat eine Dimension erreicht, der man auf der Basis rein ehrenamtlichen Engagements ohne jede (professionelle) Qualifikation nicht mehr gerecht wird. Fort- und Weiterbildung ist in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen schon längst eine Selbstverständlichkeit. Warum nicht im Tierschutz?
Organisatorisch ist das überhaupt kein Problem. Es gibt genügend Anbieter sachkundiger Fortbildung. Die Tierschutzakademie des Deutschen Tierschutzbundes ist hier zu nennen; die verschiedenen Institutionen, die professionell auf die Sachkundeprüfung vorbereiten; kynologische Fachorganisationen, die zertifizierte Absolventen hervorbringen und ein breites Themenspektrum an Vorträgen, Workshops und Seminaren anbieten.
Es muss zum selbstverständlichen "Branchenstandard" werden, dass Verantwortliche und Agierende von (eingetragenen) Tierschutzorganisationen auf ihrer Website eine Liste ihrer Qualifikationen und absolvierten Seminare veröffentlichen. Wer dies nicht tut, wer dies nicht vorweisen kann, disqualifiziert sich selbst.
Unter der Leitorientierung von Professionalität kann es dann eben nicht mehr sein, dass Tierschützer zu der von ihnen geschützten Tierart weder über eigene Empirie noch über irgendwelche Qualifikationen verfügen.
Wenn Tierschützer sich die für ihr Engagement notwendigen Fachkenntnisse aneignen, dann können sie auch ihre Aufgaben professionell erledigen. Und das fängt ganz banal und ganz anspruchsvoll bei professionellen Vor- und Nachkontrollen an!
Das bitterste Thema, welches unter den Leitorientierungen Kontrolle, Transparenz und Professionalität komplett auf den Prüfstand muss, ist das Pflegeplatz-System. Das nämlich funktioniert aus genannten Gründen viel zu häufig nicht: Kontrolle ist in dem definitionsgemäß privaten Bereich der Menschen, die sich als Pflegeplatz anbieten, nur bedingt möglich. Ebenfalls an den privaten Status gebunden ist das Defizit an Sachkunde. Leider hat die Rechtsprechung hier auch die ursprüngliche Forderung eines Sachkundenachweis für Pflegeplätze gemäß § 11 Tierschutzgesetz wieder zurückgenommen.
3. These: Primat des gesunden Menschenverstandes
Der Tierschutz insgesamt muss weg von der gesellschaftlich auch nicht akzeptierten übersteigerten Emotionalität. Wenn die Tierschützer wieder vernünftiger werden, dem gesunden Menschenverstand Raum geben und zeitgleich eine gesunde Portion Skepsis entwickeln, werden sie viele Dinge aufdecken, bevor sie wie im Fall Zarenhof eskalieren.
Auf der pragmatischen Ebene führt dieses Primat des gesundes Menschenverstandes zusammen mit der Professionalität dann zwangsläufig dorthin, die pseudo-privaten Tierhaltungen von Tierschützern zahlenmäßig drastisch zu begrenzen. Wo genau man die Grenzen setzt, muss diskutiert werden.
Das Primat des gesunden Menschenverstandes muss dann auch zu einer kritikfähigen Haltung gegenüber den Angeboten der Veterinärmedizin führen. Unter Rückgriff auf Professionalität und eigene Grundkenntnisse zu den elementarsten physiologischen Zusammenhängen befähigt ein gesundes Maß an Skepsis Tierschützer dazu, diese Angebote erst einmal kritisch zu überprüfen.
Eine ordentliche Portion Menschenverstand und gesunde Skepsis sind vor allem auch bei der Rezeption dessen angebracht, was uns die Medien so alles unter dem Label "Tierschutz" offerieren. Wenn sich im Kontext mit dem Zarenhof Tierschützer auf die mediale Berühmtheit der Animal-Hoarderin herausreden, dokumentiert das einen erschütternden Kinderglauben daran, wie man ins Fernsehen kommt: Exzellente Beziehungen und sich selbst gut verkaufen können, das sind die Schlüssel zu medialer Berühmtheit, nicht aber ethische Vorzüglichkeit und qualitativ guter Tierschutz!
Und nicht an letzter Stelle fällt unter das Primat des gesunden Menschenverstandes das ausnahmelose Verdikt des Personenkults, wie er überall im Tierschutz anzutreffen ist. Personenkult ist ein Merkmal totalitärer und faschistischer Strukturen. Schon allein deshalb verbietet sich die moralische Überhöhung von einzelnen Personen. Moderner Tierschutz muss ohne all die Pferde- und Hundeflüsterer, die Tierschutzengel, die Mutter Theresas und Doggenmamas auskommen, wenn er eine seiner wichtigsten Existenzvoraussetzungen nicht verspielen will: gesellschaftliche Akzeptanz.
4. These: Qualität statt Quantität
Sonja Zietlow hat mit einem mutigen Statement zur Qualitätsgarantie für gerettete Tiere eine Leitorientierung gesetzt: "Wenn man schon Tiere vor dem Tod rettet, dann sollte man gefälligst dafür Sorge tragen, dass diese Tiere ohne Qual und Leiden, sondern mit Würde und Anstand leben können!!! Ansonsten ist, und das ist nur meine persönliche Meinung, der Tod die bessere und mildere Alternative!" (http://www.derzarenhofinfo.com/blog-1/). Die bisherigen Handlungsorientierungen im Tierschutz verlaufen dieser klugen Einsicht diametral entgegengesetzt. Einem Bericht im WDR 5 zufolge werden jährlich zwischen 250.000 bis 400.000 Hunde von Auslandstierschützern "gerettet" und nach Deutschland eingeführt. Gleichzeitig klagt der Deutsche Tierschutzbund darüber, dass rund die Hälfte seiner Tierheime vor dem finanziellen Aus stehe.
Und dem Qualitätsgedanken muss noch auf viel breiterer Ebene Raum verschafft werden. 20 oder gar 70 frei umherlaufende Hunde in einer pseudo-privaten Tierschützer-Haltung im Haus ist keine Qualität. Qualität und Professionalität aber sind Hunde-Kleingruppen-Haltungen, wie ich sie z. B. jüngst bei der Besichtigung des BMT-Tierheims in Pfullingen sehen durfte: vier bis fünf Hunde in eigenen Gruppen mit Innen- und Außenzwinger, jeder Menge Platz und Rückzugsmöglichkeiten. Das ist Qualität!
Qualität ist nicht, wenn eine vergleichsweise kleine Tierschutzorganisation in ihrem Jahresbericht unhinterfragt angibt, über 500 Tiere vermittelt zu haben. Das ist schlichte Quantität auf dem Level von Tierhandel. Immer wieder aber liest man auf Tierschützer-Sites Vermittlungszahlen, die sich ganz offensichtlich an Quantität orientieren, um am Ethik-Markt bestehen zu können - und damit genug Spenden zu bekommen.
Den Finger am Stellhebel zwischen Quantität und Qualität haben auch die Spender, die sich weniger von Horror-Leidensgeschichten einzelner Tiere und dem Eigenlob der rettenden Tierschützer beeindrucken lassen sollten, sondern von der Erfüllung oben genannter Kriterien: Wer ist qualifiziert? Wer beweist Transparenz und legt alle relevanten Vorgänge offen? Wer handelt nach verlautbarten Ethik-Grundsätzen? Wer dokumentiert Prinzipien seiner Tierschutzarbeit?
5. These: Verbindliche Ethik-Grundsätze
Dass Politik und Gesellschaft den Tierschutz insgesamt komplett allein lassen, das wurde in verschiedenen Artikeln auf Doggennetz thematisiert. Dann müssen die Tierschützer eben selbst die Dinge in die Hand nehmen und versuchen, im gemeinsamen Diskurs für alle ihre Bereiche verbindliche Ethik-Grundsätze auszuhandeln.
Bisher können Tierschützer nur auf das dürftige Instrumentarium zurückgreifen, das ihnen die einschlägigen Gesetze und Verordnungen bieten. Ethik-Grundsätze gibt es darüber hinaus auch für den gesamten Bereich des Fundraising. Hier gilt es z. B. als verwerflich, mit besonders schockierenden Bildern zu werben, für tote Tiere Geld zu sammeln oder die Zielgruppe moralisch unter Druck zu setzen. Trotzdem geschieht solches jeden Tag auf den verschiedenen Tierschützer-Websites, in Bettelmails oder in Broschüren.
Die Moralphilosophie weiß: Ethik ist nicht teilbar. Deshalb sind Tierschützer, die sich zumindest im privaten Gespräch ganz offen zu ihrer Misanthropie (Menschenverachtung) bekennen, ein Widerspruch in sich selbst und nicht tragbar. Diese inzwischen leider innerhalb der Peergroup viel zu breit akzeptierte Grundhaltung des "Menschen sind mir egal!", muss stigmatisiert und sanktioniert werden. Wer menschlichem Leid und menschlicher Not gleichgültig gegenübersteht, kann für Tiere nichts bewegen.
Ethisch auch überhaupt nicht geklärt ist das breite Feld des Auslandstierschutzes. Hier und dort sich entzündende Diskussionen arten regelmäßig aus; verwertbare Ergebnisse gibt es keine.
Nürnberg Februar 2010 - Hundehandel unter dem Deckmantel des Tierschutzes
Ohne jede ethische Leitorientierungen auch bleibt bislang der Umgang mit Hunden, die schon einmal oder sogar mehrfach Menschen gebissen haben. Gerade wieder erleben wir eine neuerliche Verschärfung der einschlägigen Landeshundeverordnungen, nachdem es jüngst zu weiteren Todesfällen durch Hundebisse gekommen ist. Wann endlich werden die Tierschützer auf gesellschaftliche Forderungen reagieren? Dass eine sture Verweigerungshaltung die Hunde und die betroffenen Halter nicht weiterbringt, dokumentiert der lange Weg von dem kleinen Wolkan bis zu den aktuellen Gesetzesverschärfungen.
Tierschützer haben keine Standards und keine Verfahren für solche Fälle, die allgemein als verbindlich anerkannt wären. Stellt diese Tierschutzorga den fraglichen Hund einem zertifizierten Gutachter vor, entscheidet die nächste schon wieder anders und experimentiert mit teilweise hochfragwürdigen Eigentherapiemodellen. Wieder andere gehen den ganz sicheren Weg und lassen euthanasieren - müssen dies aber so geheim halten wie einen Atomraketencode, weil sie sonst von ihren Kollegen angegriffen und bloßgestellt werden.
Zur ergebnisorientierten Diskussion über die im Tierschutz zu praktizierenden Ethik-Grundsätze gehört auch die Anerkenntnis von Leid und Tod als unausradierbare Bestandteile allen Lebens. So ein mutiges Statement, wie das oben zitierte von Sonja Zietlow, kann sich eine Fernsehprominente erlauben. Bei der herrschenden Intoleranz unter Tierschützern liefert sich jeder andere Bekenner solcher Einsichten der virtuellen Lynchjustiz aus.
6. Tierschutz als hoheitliche Aufgabe
Bis hierhin mag der Eindruck entstehen, dass die Tierschützer schlicht alles falsch machen und im unstrukturierten Dilettantismus vor sich hinschützen. Im Status quo behaupten wir das zwar für viel zu weite Bereiche des Tierschutzes so, aber auch dieser Status quo hat Gründe. Und diese Gründe entlasten den Tierschutz und seine Akteure umfassend:
Tierschutz im 21. Jahrhundert ist eine derart komplexe Aufgabe, die im Ehrenamt schlicht nicht mehr zu bewältigen ist. Das fängt an mit der Fundtierverwaltung, die als kommunale Pflichtaufgabe vom Staat in den ehrenamtlichen Bereich abgeschoben wird. Und das hört bei Lösungskonzepten für hoch problematische Hunde, die kraft Behördenakt den Haltern weggenommen, dann aber Ehrenamtlern ausgeliefert werden, noch lange nicht auf. Tierschützer sollen das alles leisten? Um dies wirklich professionell und kompetent in der extremen Komplexität der Aufgaben bewältigen zu können, müssten sie Verwaltungsrechtler, Kynopädagogen, Ernährungsphysiologen, Verhaltensbiologen, Veterinärmediziner, Steuerberater, Psychologen, Betriebswirte und Sozialpädagogen - alles in einem sein! Unmöglich!
Überdies ist Tierschutz in der Bundesrepublik Deutschland Staatsziel - und damit eigentlich eine hoheitliche Aufgabe. Politik und Gesellschaft machen es sich bisher bequem und drücken diese Mammutaufgabe komplett ins Ehrenamt ab. Für die Tierschützer resultiert daraus ganz logisch die vollständige Überforderung.
Die hier formulierten Leitorientierungen wie Kontrolle, Transparenz, Rationalität, Ethik, Professionalität können nur die Krücken auf dem weiten Weg zu dem langfristigen Ziel sein, Tierschutz als hoheitliche Aufgabe zu vergreifen und zu organisieren. Damit verknüpft sein müssen dann auch entsprechende Ausbildungs- und Studienangebote, um professionelle Mitarbeiter für alle tierschutzrelevanten Bereiche zur Verfügung zu stellen.
Wenn die breite gesellschaftliche Bewegung Tierschutz den Skandal Zarenhof zum Anlass nimmt, nach der kompletten Aufarbeitung des Falles selbst sich konstruktiv der Zukunft zuzuwenden, über die strukturelle Veränderung zu diskutieren und sie dort zu gestalten, wo sie jetzt schon möglich ist, dann ist für den Tierschutz selbst und die von ihm betreuten Tiere tatsächlich etwas gewonnen. Nur dann haben die 70 Hunde auf dem Zarenhof nicht umsonst gelitten - die toten inklusive!
(Dieser Petwatch-Artikel ist eine Zusammenfassung einer dreiteiligen Artikelserie auf www.doggennetz.de, Rubrik "aktuell & kritisch", Aua 24 bis Aua 26. Dort sind die verschiedenen Thesen noch mit mehreren Beispielen unterfüttert.)