In den veröffentlichten erweiterten Frankfurter Poetikvorlesungen, die Thomas Meinecke im Rahmen der berühmten Gastdozentur hielt, macht er sich selbst vom Erzähler „zur erzählten Figur“ (S.2). Eigentlich soll in der Vorlesungsreihe, die seit 1959 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main über eine Stiftungsgastdozentur Poetik etabliert ist, Studierenden die Möglichkeit gegeben werden, Dichtung „auch einmal [aus] der Sicht des über sein kreatives Wirken reflektierenden Schriftstellers zu sehen und zu verstehen“, so die Internetseite zur Veranstaltung. Die erste Dozentin Ingeborg Bachmann widmete sich gleich den großen „Fragen zeitgenössischer Dichtung“, Heinrich Böll sprach über die „Ästhetik des Humanen“. Christa Wolf, Wolfgang Koeppen, Günter Grass, Rainald Goetz und Uwe Timm. Sie alle kamen, bevor Thomas Meinecke im Wintersemester 2011/12 das Zepter übernahm und 5 Vorlesungen einer etwas anderen Art konzipierte, die das Format Vorlesung doch allzu ernst nahm.Die Materialsammlung zu dieser „Performance“, wie Jesko Bender (S.2) die Vorlesungen nennt, ist 2012 unter dem Titel Ich als Text in der edition suhrkamp erschienen. Abgesehen von der ISBN-Nummer und der Bandnummer in der edition suhrkamp, ist diesem Buch nichts wirklich eigen: der Titel ist ein Selbstzitat Meineckes. Er wurde bereits 2000 für einen poetologischen Essay bemüht, der Untertitel „Frankfurter Poetikvorlesungen“ ist dann ein Zitat des institutionellen Rahmens und ab Seite sieben findet man dann eigentlich nur noch aneinandergereihtes Abgeschriebenes:
Thomas Meinecke zitiert sich selbst, zitiert seine eigenen an anderer Stelle angebrachten Zitate. Er zitiert andere, die ihn zitieren. Eine Zitat-Collage, die einen Thomas Meinecke als Essenz von Meinungen und Analysen konstruiert. Dass Meinecke auch für die Vorlesungen das Mittel des Zitates gewählt hat, überraschte mich als Leserin eher weniger, seine Konsequenz aber dafür um so mehr. Die Diskursmischmaschine (S. 15, Thomas Groß) hat gestoppt: Dafür hätte man keinen DJ gebraucht, nur ein brauchbares Abspielprogramm. „Man muß das Buch nicht am Anfang beginnen, man kann vor- und zurückspringen und hat dabei keinen Verlust“, hieß es schon 1998 bei Irene Bazinger (S. 16) über Tomboy. In Ich als Text ist dieses Prinzip nun auf die Spitze getrieben worden.
Den einzigen Autorenkommentar, die Rechtfertigung, warum Thomas Meinecke als Autor auf dem Buchcover steht, bildet die Auswahl und Anordnung: Das Buch ist in fünf Vorlesungen gegliedert, jeweils mit dem Datum der öffentlichen Präsentation versehen. Die Teile sind mit thematischen Schlagwörtern eingeleitet und beginnen und enden jeweils mit einem musikalischen Zitat. Der erste Teil kreist unter dem Titel „Geschlecht und Charakter“ um den Roman Tomboy, der zweite, „Die Dämmerung von Nonotech“, um Hellblau, der dritte um Musik, der vierte dann um Jungfrau und in der fünften Vorlesung ist er dann mit Lookalikes bei seinem zuletzt veröffentlichten Roman angekommen. Die einzelnen Texte bzw. Textausschnitte sind dann ebenfalls chronologisch angeordnet. Die Quellen decken den gesamten Literaturbetrieb ab. Wir finden Auszüge aus literarischen Werken, journalistischen Arbeiten und wissenschaftlichen Texten. Radiobeiträge, Vortragsmanuskripte, Blogeinträge und wissenschaftliche Abschlussarbeiten seien hier als Beispiele für die verschiedenen Textsorten und damit auch die verschiedensten Arten von Stimmen und Meinungen genannt. Für die Lokalpatrioten unter uns: Abgesehen von Thomas Meinecke sind von Eckhard Schumacher, Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Universität Greifswald, die meisten Textausschnitte abgedruckt. Und allein diese umfassen fünf verschiedene Textsorten.
Der Eindruck als Rezensentin ist vor allem der, dass es unglaublich schwierig scheint, noch etwas über das Werk Thomas Meineckes zu sagen, ohne ihn in seiner Schreibweise oder andere in ihren Aussagen zu kopieren. Man zitiert, man kontextualisiert neu. Oft ohne es wirklich zu merken. Alle Fragen scheinen gestellt.
Rolf Dieter Brinkmann schrieb einst in seinem „Angriff aufs Monopol“, dass die Toten die Toten bewundern. Leben hieße, sich zu verändern. Im Feuilleton – man lese den Verriss von Hubert Winkels in der Zeit (S. 329) – wurde Thomas Meinecke, im Sinne Brinkmanns, schon mit seinem letzten Roman totgesagt. Möchte man Meineckes Poetikvorlesungen mit ihren Zitaten nur als konsequent bezeichnen, könnte man so weit gehen, zu behaupten, dass Meinecke sich mit seinen Mitte 50 langsam totschreibt. Wäre nicht mehr zu erwarten, zu hoffen gewesen?
Hervorzuheben wäre vielleicht eine kleine „Entschuldigung“, die Thomas Meinecke in seine Ausführungen eingeflochten hat: 2007 wurde er von Klaus Birnstiel gefragt, warum er die ihm angebotene Poetik-Dozenturen bislang angelehnt hätte. Meineckes hier nun wiederholte Antwort: „ […] ich hab noch keinen richtigen Überblick. Und ich habe das Gefühl, den sollte man vielleicht haben, wenn man so was macht.“ Und weiter: „ […] ich habe noch nicht den Tonfall für so einen Text gefunden.“ (S. 237f.) Wenn man dies berücksichtigt, ist die angebotene Lösung nicht unbedingt „nur“ konsequent, sondern fast schon elegant.
Wenn er selbst auch keinen Überblick zu haben meint, so kann er seinen HörerInnen und LeserInnen doch einen sehr interessanten Überblick geben. Der Poetik-Dozentur, der es doch eigentlich eher um Einblicke geht, wurde er nur oberflächlich gerecht. Alles in Alles liegt mit dem Buch aber eine schöne und handliche Materialsammlung vor, der eigentlich nur ein Register fehlt. Viele Germanistikstudierende werden sich über die abgenommene Recherchefleißarbeit freuen und viele Meinecke-Fans darüber, ihre Zettelflut von ausgeschnittenen Zeitungsschnippseln wegwerfen zu können. Ein schönes Beiwerk für die Meinecke-Sammlung. Es bleibt aber doch zu hoffen, das er bald wieder den zweiten Plattenspieler rausholt und uns mit seinem nächsten Roman einen schönen Sampler zusammenstellt.
Thomas Meinecke. Ich als Text: Frankfurter Poetikvorlesungen
Edition Suhrkamp
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3518126516
18,00 Euro