Thomas Junker, Sabine Paul – der Darwin Code

Von Nicsbloghaus @_nbh

[Erstveröffentlichung: 20. Januar 2010]

Die Evolutionstheorie erklärt unser Leben. Auch in manchmal abwegig zu nennenden Einzelheiten.

Thomas Junker und Sabine Paul, beide auch Mitglieder in der Giordano-Bruno-Stiftung, haben zum Darwinjahr (2009) dieses wunderbare Buch geschrieben, in dem sie Darwins Theorie mit unseren heutigen Alltäglichkeiten in Beziehung setzen. Dabei kommt Erstaunliches zu Tage:
Weshalb haben wir eine solche Affinität zu fettem und süßem Essen? Weshalb lassen wir uns gern (oder zumindest so leicht) von Religionen oder Ideologien “einfangen”? Und weshalb sind Selbstmordattentate evolutionär erklärbar? Sind Kunst und Kultur von Vorteil?

Im Rahmen dieser Fragen versuchen Junker und Paul soziologische Erklärungen auf evolutionärer Grundlage zu finden. Das hört sich schwierig an, liest sich aber hervorragend.
Dass wir am liebsten Schokolade und Hamburger essen (und dazu noch mit den Fingern) liegt – so die Autoren – daran, dass wir von der Evolution so geprägt worden sind. Denn nachdem die Menschen sesshaft wurden und aus den Jägern und Sammlern die Ackerbauern und Viehzüchter wurden, änderte sich auch unsere Nahrung. Allerdings verlangt es uns – evolutionsbiologisch – noch immer nach energiereicher Nahrung. Nur, dass wir heute zu viel Energie in Form von Nahrung zu uns nehmen, als nötig wäre.

Die den Körper und das Verhalten der Menschen prägenden Gene haben sich im Verlauf von zwei Millionen Jahren an das Leben der Jäger und Sammler angepasst. Die Art der Nahrung, die Ackerbauern und Viehzüchter zu sich nehmen, unterscheidet sich aber davon. Während sich unsere Gene in den letzten 10.000 Jahren kaum verändert haben, bildet unsere Nahrung in vielerlei Hinsicht eine neue Umwelt. [...]
Mit anderen Worten, heute treffen paläolithische Gene auf neolithische Ernährung. (Seite 28)

Daraus ergeben sich heute die viel zitierten Zivilisationskrankheiten.
Und deshalb plädieren Junker und Paul für eine ausgewogene Ernährung, die sich an den evolutionären Vorgaben ausrichten sollte. (Allerdings erklären sie weder, wie diese Ernährung genau aussehen sollte, noch, wie dies einer seit der neolithische Revolution weitaus größeren Anzahl an Menschen ermöglicht werden kann.)

Ich werde – auch wegen der beiden hervorragenden Rezensionen, die beim hpd bereits erschienen sind (siehe unten) nicht auf das gesamte Buch eingehen, möchte aber noch etwas zu dem Thema bemerken, dass mich seit geraumer Zeit beschäftigt.
Mehrfach habe ich schon meine Theorie geäußert, dass unter anderem auch das Erstarken von Religionen (oder deren Ersatz wie diverse Esoterik-Ideen) damit erklärlich zu sein scheint, dass der Mensch in einer globalisierten Welt sich nicht zurecht findet und sich kleinere, übersichtlichere Gruppen (und Ideen, die die Gruppen verbinden) sucht. Dies wird in gewissem Masse auch von Junker und Paul bestätigt:

Sie [die Steinzeitmenschen] lebten in kleinen, beweglichen Gruppen von rund 30 Mitgliedern, die überwiegend miteinander verwandt waren, sich gut kannten und nur selten Fremde trafen. (Seite 13)

Sie werden dann genauer, wenn sie schreiben:

Bis vor rund 10.000 Jahren, d.h. bis zur noelithischen Revolution, lebten die Menschen mit ihren Verwandten in überschaubaren Jäger-und-Sammler-Gruppen. Und auch heute ist die Verbindung von räumlicher Nähe und Verwandtschaft in den Familien meist noch gegeben. Unter diesen Bedingungen läßt sich der Verwandtschaftsgrad an Kriterien wie Vertrautheit und Ähnlichkeit relativ eindeutig ablesen. Seit der neolithischen Revolution entstanden aber zunehmend größere Einheiten wie Städte und Staaten, in denen die Menschen auch mit zahlreichen Nichtverwandten zusammenlebten. Diese Entwicklung erfolgte offensichtlich zu schnell, um die altsteinzeitlichen Instinkte der Verwandtenerkennung an die neue Situation anzupassen. Die Folge ist eine typische Fehlanpassung: Eine Verhaltensweise, die in einer bestimmten Umwelt (der Altsteinzeit) von Vorteil war, wird unter den neuen Bedingungen (Zivilisation) zu einem Überlebens- und Fortpflanzungsnachteil. (Seite 98)

woraus sie im Buch zwar den Schluss ziehen, dass sich daher “die Verwandschaftenerkennung bei Menschen so leicht manipulieren” lässt, ich aber meine, dass sich das auch auf die genannte Theorie übertragen lässt.

Im Zusammenhang mit den Selbstmordattentaten – für die sie als Erklärung unter anderem auch die Möglichkeit der Manipulation der Verwandtschaftenerkennung heranziehen – schreiben die Autoren auch, dass die aktuell erlebten Selbstmordattentate mitnichten eine “Erfindung” der Neuzeit sind. Sondern sich historisch belegen lässt, dass

Selbstmordattentate [...] von der militärisch schwächeren Seite in nationalen Verteidigungs- und Befreiungskriegen eingesetzt [werden], in denen es große kulturelle und religiöse Unterschiede zu den Angreifern bzw. Besatzern gibt. (Seite 88)

Das galt bereits in biblischen Zeiten. Und das gilt noch heut.
Auch wenn die Autoren den Schluss nicht ziehen bedeutet das, dass eines der wichtigsten Ziele der menschlichen Kultur der Zukunft sein muss, gerade diese großen kulturellen Unterschiede aufzulösen. (Ich erwähne religiöse Unterschiede deshalb nicht, weil ich meine, dass diese sich mit einer wirtschaftlichen und kulturellen Annäherung von allein erledigen.)

Junk und Paul sehen in der Entstehung der Kunst (und der Religionen) einen evolutionären Vorteil. Diese Ansicht teile ich, wie ich bereits in meiner Rezension von Peter Boldt’s Buch schrieb. Auch wenn ich (natürlich) der Auffassung bin, dass sich Religionen – vor allem in ihrer wie auch immer konstituierten Art – überlebt haben und eben nicht mehr notwendig sind, um das Überleben zu sichern, gestehe ich ihnen zu, diese Funktion eine geraume Zeit erfüllt zu haben. Wir müssen an dieser Stelle nicht über die gravierenden Nachteile der In-Group:Out-Group-Konstellation reden; aber Kultur (und Religion) spielte unbestritten eine wichtige Rolle bei der Entstehung des sozialen Zusammenhalts der Menschen(gruppen).

Doch was ist Kultur, was Kunst? Die Autoren bieten dafür folgende Definitionen an:

Unter “Kultur” versteht man das gesamte Wissen und Verhalten, das ein Individuum von Mitgliedern seiner sozialen Gruppe übernimmt. Dies kann durch Nachahmung oder durch systematisches Lehren und Lernen erfolgen. Wenn Erwachsene ihr so erworbenes Wissen an Kinder weitergeben, kommt es zu einem Informationsfluss über viele Generationen hinweg. (Seite 129)

Im dem Maße, in dem die Menschen begannen, sich mit den aufwändig gestalteten Produkten und Verhaltensweisen anderer Individuen zu identifizieren (d.h., sie als Teil ihres erweiterten Ichs [extended Phänotyp (Dawkins)] zu akzeptieren), entstand die Kunst, so wie wir sie heute kennen: als aufwändig gestaltete, kollektive Phantasien. (Seite 162)

Junker und Paul gehen davon aus, dass sowohl Kunst als auch Religionen – zwar von gegenteiligen Punkten aus ausgehende, aber gleiche Ziele verfolgende – Mittel waren (sind), eine Gemeinschaft zu bilden. (Seite 177)

Eine Gesellschaft wird sich … umsomehr Kunst leisten können, je stärker die Interessen der Mehrzahl der Einzelnen gewahrt sind, und sie benötigt umsomehr Religion, je weniger dies der Fall ist. (Seite 179)

Alles in Allem: ein sehr lesenswertes Buch, gut und verständlich geschrieben, über verschiedene Aspekte unseres menschlichen Daseins. Es erklärt nicht genau, wer wir sind, was wir hier sollen und wohin wir gehen, gibt aber ein paar gute Gründe, das Hiersein zu genießen und zu begreifen.

Nic


zwei Rezensionen beim hpd:
von Armin Pfahl-Traughber
und von Fiona Lorenz
und noch eine (fragwürdige) in der WELT