„Am Ziel“ von Thomas Bernhard in der Regie von Cesare Lievi gibt Andrea Jonasson die Gelegenheit zu brillieren
Man möchte fast meinen, „Am Ziel“ von Thomas Bernhard wäre noch vor seiner Lebenszeit geschrieben worden. Diesen Eindruck vermittelt die aktuelle Inszenierung im Theater in der Josefstadt. Die Wahrnehmung ist klarerweise falsch, der Autor verfasste das Theaterstück sogar relativ spät, erst im Jahr 1981. Aber der Regisseur Cesare Lievi, der bis 2011 das Theater in Udine leitete und in Österreich schon mehrfach an verschiedenen Häusern inszenierte, verpackte es in ein so altbackenes Surrounding, dass das Spiel um emotionale Abhängigkeiten und Theaterdiskussionen einen angegrauten Bart zu haben scheint.
Dabei unterstützte ihn nach Kräften Maurizio Balò mit einem Bühnenbild, das zwar intelligent und schön, aber in der Vergangenheit stecken geblieben ist. Zeigt es doch den großzügigen Innenraum des Wohnhauses von „Mutter“ und „Tochter“, wie die beiden Protagonistinnen bei Bernhard genannt werden. Ein mit einem Stoffschoner überzogener Ohrensessel, ein kleines Teetischchen, große, überhohe, weiße Kleiderkästen, ganz mit historistischem Dekor versehen, ein mit einem Staubschutz verhangener Kristallleuchter. Alles gediegen, vom Feinsten, alles sauber, aber alles aus einer vergangenen Zeit. Nach der Pause dasselbe noch einmal, nur spiegelverkehrt. Die Botschaft kommt rüber: Obwohl sich der zweite Teil im Ferienhaus am Meer abspielt, sind die Voraussetzungen und Familienkonstellationen die selben, bleibt das eintönige Leben doch bis ins kleinste Detail, egal an welchem Ort, gleich.
Andrea Jonasson brilliert in jeder Szene aufs Neue
Die Hauptrolle der Mutter, fulminant trotz einer Wirbelverletzung interpretiert von Andrea Jonasson, bewegt sich kaum. Sie bleibt in der ersten Hälfte des Stückes die meiste Zeit über in ihrem Fauteuil sitzen und erzählt ihrer Tochter – wahrscheinlich zum ungezählten Male -ihre eigene Geschichte. Das Kennenlernen ihres Vaters, den sie nicht liebte, sondern den sie allein wegen seines Gusswerkes und seines zweiten Hauses am Meer heiratete. Sie berichtet über ihr Eingreifen in die Geschäftsgebarung ihres Mannes und über ihren verhassten erstgeborenen Sohn, einen Krüppel, der als Kleinkind schon starb. Nicht zuletzt erwähnt sie das Schicksal ihrer eigenen Tochter, die wegen stimmlicher Probleme ihren Traum, Sängerin zu werden, aufgeben musste. Tatsächlich wundert man sich nicht, dass der Tochter (Therese Lohner) eines Tages die Stimme versagte. Zu übermächtig ist diese Mutter, als dass sie gegen sie aufkommen könnte. Die Liebe, von der sie erdrückt wird, entpuppt sich als rein egoistische Handlungsweise. Alles, was im ersten Teil von „Am Ziel“ von der Mutter zu hören ist, lässt auf einen egoistischen, besitzergreifenden, hasserfüllten und desillusionierten Charakter rückschließen. Therese Lohner hat die undankbare Aufgabe, eine junge Frau zu mimen, die auf der Bühne kaum einmal ihrer Mutter Paroli bietet, dafür jedoch permanent mit Wäsche Aus- und Einpacken beschäftigt ist. Rollen wie diese sind schwer zu spielen, muss doch das Mienenspiel übernehmen, was an Text nicht vorhanden ist. Und das ist großartig. Wie sie jede auch noch so zarte Berührung ihrer Mutter, jedes noch so kleine Lob und jede noch so winzige Zuneigung begierig in ihr Innerstes aufsaugt, ist sehenswert. Wie sie duckmäuserisch Rügen erträgt, aber auch in gewissen Situationen mit einer immensen Verachtung auf Jonasson blickt, hat einfach Klasse. Ihr Gegenpart, der junge „dramatische Schriftsteller“, ist zwar wesentlich wortgewandter als das schon leicht in die Jahre gekommene Mädchen. Dennoch hat auch er (Christian Nickel) Mühe, dem Redeschwall der Mutter etwas entgegenzusetzen. Nickel schwankt zwischen dem Begehren für die Tochter und einer uneingeschränkten Bewunderung für die Mutter. Ganz dem Textbuch folgend, stellt er einen jungen Autor dar, den sein erster Erfolg völlig unerwartet trifft und der die beiden Frauen auf deren Einladung hin in ihr Sommerhaus begleitet.
„Es war ein Fehler, das Abonnement nicht aufzugeben“. Gleich zu Beginn holt sich Thomas Bernhard mit der Feststellung der alten Dame hier ganz bewusst die Lacher des Publikums, um später wesentlich tiefgründiger über das Theater an sich weiter zu räsonieren. Dass es für gar nichts gut sei, niemandem etwas helfe, woran sich, seit es das Theater gibt, noch nichts geändert habe. Am Ende wird klar, dass Theater sehr wohl etwas bewirken kann. Zumindest in dieser familiären Situation ist es das physische Eindringen des Autors in eine Familienkonstellation, die sich als höchst ungesund darstellt und die über das Theater initiiert wurde.
Nach der Pause wird´s richtig interessant
Wer zur Pause die Josefstadt verlässt, ist selbst schuld. Die Antipathien, die sich die Mutter im ersten Teil des Abends durch ihre ständige Gängelung der Tochter aufbaute, beginnen langsam dahinzuschmelzen. Angeregt durch das Gespräch mit dem Literaten entwickelt sie eine intellektuelle Scharfsicht, in der sie sogar revolutionäre Ideen spinnt. Fragil und komödiantisch zugleich gibt Jonasson nun Charakterzüge frei, die man der Figur zuvor nicht zugetraut hätte. Vom Alkohol beflügelt, ruft sie die Jungen auf, sich doch gegen die Alten, gegen das Establishment aufzulehnen und wird damit erst richtig zu jener intellektuellen Größe, die vom Schriftsteller angebetet und deren Kritik unwiderlegbar wird. Das ist großartiges Theater und großartige Literatur.
Den einzigen Bezug zum Hier und Jetzt setzt der Regisseur mit der Figur des „Mädchens“. Martina Ebm darf mit weiß gebleichten Haaren, Netzstrümpfen und aufmüpfigen Gesten die vergiftete Familienatmosphäre beleben und aufzeigen, dass es außerhalb des distinguierten Haushaltes noch ein anderes Leben zu leben gibt. Der Ausgang des Stückes bleibt offen. Ob nun der junge Autor länger im Haus der beiden Frauen bleibt, ob er seiner Zuneigung zur Tochter Ausdruck verleihen wird können, oder ob die Mutter in dieser Beziehung zu sehr weiter alleinig die Fäden ziehen möchte. Für eigenes Weiterdenken besteht kein Hinderungsgrund.
Ein interessanter Abend mit großen schauspielerischen Leistungen, dem ein klein wenig mehr Mut in der Regie sicher gut getan hätte.