War die Biene Maja ein Mädchen oder ein Bub? Warum stehlen Roma im Traum Toiletten? Hänsel und Gretel waren Flüchtlinge! Ein Herzchirurg aus dem „1. Bezirk in Damaskus“ wundert sich über österreichische Wohnungszustände. „Das alles, und noch viel mehr“, möchte man Rio Reiser zitieren, gibt´s derzeit in „Kein Stück über Syrien“ vom Aktionstheater Ensemble zu sehen. Am Petersplatz ist im Werk X die Anarchie ausgebrochen, eine Revue angesagt oder auch ein Kabarett. Oder, wenn man es anders beschreiben will: Dort wird ein richtig, richtig unterhaltsames Stück gezeigt. Das schafft das Ensemble rund um und mit Martin Gruber, Autor, Co-Autor und Regisseur in Personalunion, in seiner jüngsten Produktion, die schon im Vorfeld großes Medienecho auslöste. Tatsächlich bricht dieses Theater über das Publikum herein wie ein Tsunami vollgepackt mit schamlosen Statements, unglaublichem Klamauk, tollen Songs und jeder Menge Blödsinn und Tiefgang zugleich, bei dem man gar nicht anders kann, als immer und immer wieder laut zu lachen.
Gruber bricht mit allen Erwartungshaltungen, die man sich im Vorfeld unter dem Titel so schön zurechtgebastelt hat. „Kein Stück über Syrien“ folgt ja derselben Logik wie die paradoxe Aufforderung, jetzt nicht an den rosa Elefanten zu denken. Tatsächlich aber ist diese Produktion ein Stück über unsere österreichische Befindlichkeit in Zeiten der großen Flüchtlingsbewegung aus dem Nahen Osten. Es ist eine Nabelschau unserer Gefühle und Meinungen, eine Melange aus vielem, was man sich nicht sagen traut, was man gerne wissen möchte und was man lieber nicht gehört hätte. Wie zum Beispiel jene Geschichte von Michaela, in welcher sie über die Überschwemmung in ihrem Klo erzählt. Verursacht von Flüchtlingen, die sie kurzfristig in ihrer Wohnung beherbergte. Oder den stinkenden Füßen von Menschen, die nach wochenlanger Flucht, ohne zu duschen, das erste Mal in einem kleinen Wohnzimmer ihre Schuhe ausziehen. Man möchte das alles nicht hören und freut sich doch über diese Erzählungen aus dem prallen Leben, die authentischer nicht mehr sein können. Oder zumindest unsere zum Teil vorgefasste Meinung bestätigen und damit unser Ego stärken.
Pin, Pon und Pan von der Gruppe Panda Pirates, wohnhaft in der Heimatstadt Earth, wie man von ihrer Facebook-Seite erfährt, würzen den Abend mit fetzigen Ohrwürmern und mitreißenden Beats. Und liefern auch den Soundtrack zur Cabaret-Einlage, die laut Michaela den Auftakt zu einer Veranstaltung unter dem Titel „Refugees welcome – no border“ bildete. Jenem Song von John Kander aus dem gleichnamigen Musical, in dem der Conférencier in verschiedenen Sprachen die Gäste auffordert zu bleiben. „Bleibe, reste, stay“, ein frommer Wunschtraum für Tausende Flüchtlinge, die derzeit nicht einmal die Grenzen zur Türkei passieren dürfen.
Michaela Bilgeri, die von ihren Erlebnissen mit den Flüchtlingen erzählt, ist eine jener vielen Menschen, denen es wichtiger war, aktiv zu helfen, als nur zuzusehen. Eine junge Frau, die aber offenbar auch gerne ihre eigenen Grenzen auslotet. Intensiv, zu 100% auf der Bühne im Hier und Jetzt verankert, informiert sie das Publikum über alle Fallstricke, in die sie während ihrer Helferzeit stolperte. Und Susanne lacht sich dabei krumm und scheckig. Bis zu jenem Zeitpunkt, an dem sie realisiert, dass ihre Kollegin das weitaus größere Textpensum absolvieren darf. Mit heruntergelassener Hose steht sie in ihrem Feinrippunterhemd vor dem Publikum und beginnt zu heulen. Ein weiblicher Ritter der traurigen Gestalt, den man gerne in den Arm nehmen würde, an anderen Stellen jedoch für seinen trockenen Witz, die schelmischen Blicke und die absolut kompromisslose Bühnenpräsenz bewundert.
Robert Finster darf den Abend nutzen, um seine Tanzfähigkeiten zu verbessern. Er, der gerne alleine tanzt, weil er zu Unrecht meint, dass seine Bewegungen zu linkisch seien, zeigt seinen muskulösen Körper in einem schwarzen Undwerwear-Outfit. Seine Füße stecken in hohen, geschnürten Damenschuhen, die das Gefühl vermitteln, als ob er sich permanent auf unsicherem Terrain befände. Eine tolle Metapher für das gesamte Geschehen, das andauernd zwischen einer waghalsigen Intelligenz-Hochseilnummer und einer zutiefst geerdeten Betroffenheits-Satire pendelt. Dass sich Finster kein bisschen in die Flüchtlingsthematik einbringt, sondern stattdessen über seine Pedikürgewohnheiten auslässt, steht exemplarisch für all jene Mitmenschen, denen es mit Bravour gelingt, gesellschaftspolitische Themen auszublenden. Er ist dank seiner Egomanie auch der einzige, der bei diesem Thema nicht offen auf die Bühne kotzen muss. Alexander Meile im Sumsi-Kostüm wiederum erklärt in einer grandiosen Solo-Nummer, welchen Zusammenhang seine Verkleidung mit dem Stück hat. Die angebliche Verpflanzung der Bienen aus ihrer angestammten asiatischen Region kann man ja ohne Weiteres mit dem Generalthema Flucht aus Syrien in Verbindung bringen! Die anschließende pseudo-wissenschaftliche Belehrung über die Apis mellifera und seine Insektenimitation lässt kein Auge trocken und zugleich die Frage nach dem „Warum das jetzt?“ im Raum förmlich greifbar werden. Dein Verdrängungsmechanismus feiert fröhliche Urstände, möchte man ihm zurufen. Und zugleich ertappt man sich wie gerne man auch Mitglied in Grubers Truppe wäre, wenn dieser mit so vortrefflich absurden Ideen wie die eines Bienenkostüms einverstanden ist!
Die Aneinanderreihung von Szenen, in welchen über die Flüchtlingsthematik gesprochen wird und solchen, die den Irrsinn unserer mitteleuropäischen Kultur aufzeigen, bewirken einiges. Das Posieren in blöden Körperattitüden, ganz so wie Models am Catwalk, bei dem das Ensemble noch dazu seine Hosen verliert, steht in krassem Gegensatz zu den zuvor evozierten Bildern von Menschen auf der Flucht. Gruber macht damit nicht nur klar, dass sich auf unserer Welt menschliche Dramen und ein unglaubliches, hirnverblödetes Luxusleben zugleich abspielen. Vielmehr wird auch deutlich, dass wir Mitteleuropäer die derzeitigen Geschehnisse, im Moment zumindest, als episodenhafte wahrnehmen. Als etwas, in das man sich einklinken kann, aber nicht muss und das, wie alles im Leben, auch wieder vorübergeht.
Trotz allen Humors schafft es Gruber, dem Publikum in der allerletzten Szene noch eine gehörige Portion Denkaufgabe mit auf den Heimweg zu geben. „There is no system“, lässt er Michaela durch einen Flüchtling am Telefon ausrichten, der es nicht glauben kann, sich in einem deutschen Flüchtlingslager zu befinden. Zu Hunderten in einer Großraumschlafstätte untergebracht, in der es kalt ist, sind seine Kinder permanent krank. Der Wunsch, Deutschland Richtung Kanada zu verlassen, ist, nicht zuletzt weil medial gehypt, nachvollziehbar.
Wie brisant, frech und furchtlos das Aktionstheater Ensemble mit „Kein Stück über Syrien“ agiert, lässt sich im Vergleich zur vor zwei Tagen ausgesprochenen Absage von „Homohalal“ im Volkstheater erkennen. Die negative Zukunftsprognose, die der Autor Ibrahim Amir darin an den Schluss des Textes setzt, sah die Leitung als „kein geeignetes Mittel zur Auseinandersetzung über die Zukunft schutzsuchender Menschen in Österreich“ an.
Allen Moralaposteln und –apostelinnen, die sich angesichts all der political incorrectness dieser Produktion, wie einst Ferdinand I während der Revolutionsaufstände in der Herrengasse in Wien im Jahr 1848, fragen: „Ja dürfen`s denn das?“, sei ins Stammbuch geschrieben. „Ja, das Aktionstheater Ensemble darf das und fragt auch nicht, ob es das darf. Denn Martin Gruber ist im Geist wohl mit dem genialen lachenden Philosoph Demokrit verbunden, der die Ausgeglichenheit im Leben für das höchste Gut hielt, zu dem man in vielen Fällen jedoch nur durch Lachen gelangt.