Theodor Storm: Ein Doppelgänger

Wolfgang Krisai: Haus im Waldviertel. Aquarell. 1987.

Theodor Storms Erzählung „Ein Doppelgänger“ schlägt den Leser sofort in ihren Bann. Mit geschickten Mitteln wird Spannung aufgebaut. Der Ich-Erzähler, ein junger Mann aus Norddeutschland, der eine Reise in den Süden des Landes getan hat, lernt im Wirtshaus einen freundlichen Oberförster kennen, der ein seltsames Interesse an ihm entwickelt. Die beiden vertiefen sich in eine angeregtes Gespräch, und schließlich bittet der Förster den jungen Mann, doch auf ein paar Tage bei ihm zu Gast sein zu wollen. (Selige Zeiten, wo einem dies auf Reisen passieren konnte.) Der Mann willigt ein und begibt sich am nächsten Tag zu Fuß in die Försterei. Nicht ohne sich zuvor beim Wirt nach dem Förster erkundigt zu haben. Von diesem erfährt er, dass der Oberförster wohl deshalb Interesse gezeigt habe, weil der Gast und die Frau des Försters vermutlich aus derselben Stadt kämen.

Der Erzähler kann sich beim besten Willen nicht an eine Dame des fraglichen Alters erinnern, die hierher geheiratet haben sollte.

Sehr bald wird die Sache dann beim Förster, der den jungen Mann herzlichst willkommen heißt, zur Sprache gebracht. Tatsächlich stammt die Frau aus dem Heimatort des Erzählers, doch sie ist ihm unbekannt geblieben, da sie ein Mädchen aus den unteren Schichten war, während der Erzähler Kind wohlhabender Eltern ist. Doch nun ist die Dame, Christine mit Namen, eine edle und liebenswürdige Frau geworden, der man die niedrige Herkunft nicht ansieht.

Sie sagt, ihr Vater sei John Hansen gewesen. Doch von diesem weiß der Gast nichts. Vom Oberförster erfährt er, dass dieser Mann den Spitznamen John Glückstadt gehabt habe, da er ein Insasse des Glückstädter Zuchthauses gewesen sei. Und trotz allen guten Willens, ein ehrlicher Bürger zu werden, sei ihm dieses Image sein Leben lang nachgehangen und schließlich zum Verhängnis geworden.

Der Oberförster nimmt dem Gast das Versprechen ab, nicht mit Christine von ihrem Vater zu sprechen, den sie in heiliger Kindheitserinnerung habe. Sie habe ihn und ihre Mutter früh verloren und sei dann von reichen Leuten aufgezogen und so zu der Frau geworden, die sie jetzt sei.

Ein Verfemter

In der Nacht fällt dem Gast dann plötzlich die Geschichte des John Hansen alias Glückstadt ein. Und der Großteil der Novelle ist dann die Erzählung dieses Schicksals:

John Hansen hat als junger Mann, angestiftet von einem Tunichtgut, einen Raub begangen und dafür sechs Jahre lang in Glückstadt eingesessen. Als er wieder zurückkam in seine Heimatstadt, war er ein Verfemter, obwohl er seine Zeit brav und untadelig abgesessen hatte. Er versucht, wieder Fuß zu fassen, bekommt zunächst kaum Arbeit und streift in der Gegend herum. Dabei entdeckt er auf einem Feld einen alten, tiefen Brunnen, der ausgetrocknet ist.

Zur Erntezeit kann er die Arbeiterinnen auf dem Feld, wo dieser Brunnen liegt, beaufsichtigen. Damit niemand hineinfällt, bittet er den Besitzer, den Brunnen durch einen Bretterzaun zu sichern, was geschieht. In die junge Hanna, die er auch beaufsichtigen muss und die ein recht fesches und couragiertes Mädel ist, verliebt sich Hansen. Er heiratet sie, und sie wohnen in einer winzigen Kate bei ihrer Mutter. Bald kommt Tochter Christine zur Welt. Hansen bekommt immer wieder Arbeit – aber manchmal auch längere Zeit nicht, denn den ehemaligen Zuchthäusler will keiner so gern engagieren. In solchen Zeiten der Arbeitslosigkeit gehen John immer öfter die Nerven durch, es kommt zu Gezänk und zu Handgreiflichkeiten mit Hanna. Die Dorfjugend macht sich einen Spaß daraus, vor der Kate zu stehen und dem Geschrei zuzuhören. Unter den Buben ist auch der Gast.

Totschlag

Eines Tages geschieht in so einem Streit ein Unglück: Hanna erwähnt die sechs Zuchthausjahre, und da sieht John rot. Er stößt Hanna grob von sich, sie stürzt und schlägt sich eine aus dem Ofen ragende Schraube ins Gehirn. Tot.

Die kleine Tochter, erst drei Jahre alt, bekommt zum Glück nicht so recht mit, was passiert ist.

John ist gebrochen. Wäre da nicht die Tochter, so verlöre er jeden Lebensmut. Er bereut seine Brutalität unendlich, aber es nützt nichts. Da er eine alte Bettlerin bei sich aufnimmt, die auf das Kind und den Haushalt schaut, ist wenigstens halbwegs Ordnung im Haus.

Als der Komplize von einst überraschend wieder auftaucht und John mit ihm in einer abgelegenen Gasse angetroffen wird, wird vom Dorfpolizisten das Gerücht ausgestreut, die beiden hätten wieder etwas vor. Obwohl sich das als haltlos erweist, will nun überhaupt niemand mehr mit John zu tun haben. Im Winter hat er kein Brennholz mehr. Um wenigstens am Heiligen Abend einheizen zu können, stiehlt er die Umzäunungsbretter des Brunnens. Und wenig später treibt ihn der nagende Hunger dazu, auf eben jenem Feld Kartoffeln zu stehlen. Mit dem Kartoffelsack in der Hand schleicht er über das nächtliche Feld, wird aufgeschreckt, läuft ein paar Schritte – und steigt ins Leere.

Er wird nicht gefunden. Die Tochter kommt zu den reichen Gönnern.

Ein Geist

Erst jetzt, wo er den Namen der Tochter Hansens kennt, kombiniert der Gast eine Begebenheit aus eben jenen Tagen mit der Figur des John Hansen: Am Tag nach dem Verschwinden Hansens war ein Freund des Gastes atemlos von dem Kartoffelacker gekommen und habe geschworen, dort spuke es. Ein Geist habe mit hohler Stimme “Christian” gerufen, den Namen des Buben. In Wahrheit war das Hansen, der aus dem Brunnen nach Christine gerufen hat.

Ein paar Tage später hatten dann Feldarbeiter einen Falken in den Brunnen hinunterstoßen gesehen. Als sie nachsahen, was der dort suche, sei ihnen ein übler Geruch entgegengeschlagen. Und inzwischen ist der Brunnen schon zwei Jahre lang zugeschüttet.

Am nächsten Tag erzählt der Gast all das dem Oberförster. Bald nach der Abreise erhält der junge Mann einen Brief des Försters, in dem dieser sagt, er habe nun alles seiner Frau erzählt, denn es sei nicht gut, wenn es Geheimnisse zwischen Eheleuten gebe. Die Frau habe die Erschütterung und den Schmerz überstanden und kenne jetzt die wahre Persönlichkeit ihres Vaters, was sie ihn in neuem, reiferen und größerem Licht sehen lasse.

Die Erzählung endet mit dem Beschluss des Erzählers, auf das damalige Versprechen, gewiss wiederzukommen, endlich die Tat folgen zu lassen.

Fürs Leben abgestempelt

Storm hat in dieser Erzählung eine soziale Problematik aufgegriffen, die es heute genauso noch gibt. Immer noch geraten Menschen auf die schiefe Bahn und sind dann fürs Leben abgestempelt, auch wenn sie sich redlich bessern. Insofern kann diese Erzählung also auch heute noch im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit sozialen Problemen von Interesse sein.

Gut lesbar ist die Novelle jedenfalls, Storms angenehmer, unserer heutigen Sprache noch recht naher Stil stellt dem Leser keine unnötigen Hürden in den Weg. Insbesondere der geschickte Spannungsaufbau zu Beginn reißt den Leser so ins Geschehen hinein, dass an ein Nicht-zu-Ende-Lesen gar nicht zu denken ist.

 

Storm, Theodor: Ein Doppelgänger. Novelle. In: Storm: Sämtliche Werke, Deutsche Buch-Gemeinschaft Berlin, Darmstadt, Wien,  1967. Band II, S. 608 – 663.

Bild: Wolfgang Krisai: Haus im Waldviertel. Aquarell. 1987.



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