Thekkady: Erste Bergstation – und ein blaues Auge

Insgesamt etwa neun Stunden sind wir die ersten beiden Tage durch ein topfebenes Tamil Nadu gereist, vorbei an unzähligen kleinen Reisfeldern, Mangopflanzungen, Kokoshainen und Zuckerrohrfeldern, vorbei an kleinen, ärmlichen Dörfern mit palmwedelbedeckten Häuschen und zusammengeschusterten Hütten, als wären sie von Zwergen erbaut. Das Land erstrahlt zwar in sattem Grün und ist überaus fruchtbar. Doch die Landwirtschaft scheint nicht viel abzuwerfen, jedenfalls nicht für die einfachen Bauern.

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Tamil Nadu: Grün und oft ärmlich (Foto: Claire Shah via flickr)

Wie wir uns den Bergen nähern, werden die Kokospalmen zahlreicher. Sie werden hier hauptsächlich ihrer Fasern wegen angebaut. Seit längerem sind am Horizont erste Hügel auszumachen. Doch sie kommen und kommen nicht näher. Ich sehne mich geradezu nach den Bergen oder zumindest nach Hügeln und nehme jede noch so kleine Erhebung mit geschärftem Blick wahr. Erst jetzt merke ich, dass ich seit bald fünf Wochen keinen einzigen Hügel gesehen habe, und frage mich, warum ich das als Mangel empfinde. Ist es, weil Hügel und Berge die Landschaft reicher, vielgestaltiger machen? Oder weil sie die Möglichkeit bieten, übers Land und womöglich in die Weite zu schauen? Oder ist es einfach nur, weil ich Hügel von zuhause gewöhnt bin?

Fahrt durch eine Orgie in Grün

Erst kurz vor der Grenze zu Kerala beginnt der Aufstieg in die Berge. Und hier beginnt auch ein ausgedehntes Waldgebiet in einer Art, wie ich es noch selten erlebt habe (sogenannter immergrüner Trockenwald): Kaum ein Baum gleicht dem anderen. Es müssen Hunderte von Arten sein, die hier wachsen, darunter Baumriesen mit einem Stammdurchmesser von bis zu drei, vier Metern, vielleicht auch mehr. Dominierende Farbe ist ein sattes dunkles Grün. Nur im dichten Unterholz ist zuweilen helleres, saftigeres Grün auszumachen. Nicht selten besteht das Unterholz aus kleinen Bambusarten. Durch diese Orgie in Grün schlängelt sich eine schmale, holprige Strasse, auf der wir – durchaus zu meiner Freude – nur langsam vorwärts kommen. In den Dörfern dominieren Bananenstauden. Einzelne Bäume mit ausladender Krone stehen an markanter Stelle, darunter kleine Verkaufsbuden, wie man sie in ganz Südindien antrifft, oder Jeeps, die hier ebenso als Taxi dienen wie die dreirädrigen Autorikschas. Einen regionalen öffentlichen Verkehr scheint es nicht zu geben.

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Blick über das Periyar-Naturschutzgebiet (Foto: indiawaterportal.com via flickr)

Touristenfalle Thekkady
Thekkady ist in der Hochsaison voller Touristen, die ins nahe Periyar-Naturschutzgebiet wollen, wo es Tiger und wild lebende Elefantenherden geben soll. Natürlich bekommen sie (die Touristen) diese (die Tiger und Elefanten) kaum zu Gesicht. Vielmehr bewegen sie sich zu festgesetzten Zeiten und überhöhten Preisen auf ausgetrampelten Pfaden durch die äusserste Peripherie des Gebietes. Die Saison geht dem Ende zu. Es hat nur noch wenige Touristen. Entsprechend scharf sind die Händler – hauptsächlich Kaschmiris, die hier vor den politischen Verwerfungen in ihrer Heimat zuflucht gefunden haben – auf jeden einzelnen … Ich lege mir ein dickes Fell zu, bin ich doch wegen des Tracs, dem Rollstuhlzuggerät, die Sensation im Dorf.

Mit blauem Auge davongekommen
Der Trac wird mir etwas später auch zum Verhängnis. Das kam so: Ich liess vier Buben unterschiedlichen Alters abwechselnd auf dem Trac reiten. Der älteste war hinter mir und schob den Rollstuhl. Dabei musste er die Geldbörse in meiner Rückentasche entdeckt haben. Dass sie nicht geschlossen war, ist ein unverzeihlicher Fehler … Mit einem Mal stieben alle davon und rannten ins Gelände. Zwar wunderte ich mich, dass ihr Interesse so plötzlich nachliess, schrieb das aber ihrer Kindesnatur zu. Erst eine knappe Stunde später entdeckte ich, dass die Brieftasche weg war. Neben einigem Geld war auch die Kreditkarte und die Postcard drin … Erst dann erinnerte ich mich auch, dass die Kinder beim Davonrennen etwas in der Hand hatten, das sie bald fortwarfen. Das musste meine Brieftasche gewesen sein. Auch erinnerte ich mich an ihre kindliche Freude – wie wenn sie ein Eis geschenkt bekommen hätten –, als sie sich in Sprüngen davonmachten.
In der Hoffnung, wenigstens meine Brieftasche und womöglich die Karten zu finden, versuchte ich, Leute zu mobilisieren, die mir beim Suchen halfen. Vergebens! Niemand konnte Englisch oder verstand mein Anliegen, das ich mit Gesten auszudrücken versuchte. So fuhr ich selber ins recht unwegsame Gelände und fand zu meiner Erleichterung bald die Brieftasche. Allerdings war sie leer – bis auf die Kreditkarte. Immerhin! Inzwischen sind auch Englisch sprechende Einheimische hinzugestossen und haben einen Polizeioffizier mobilisiert. Um es kurz zu machen: Auch der restliche Inhalt der Brieftasche wurde gefunden – ausser das Bargeld: etwa 10’000 Rupien, was ungefähr 170 Franken entspricht. Insgesamt bin ich mit einem blauen Auge davon gekommen. Von einer Anzeige habe ich abgesehen, nachdem ein junger Mann mir erklärte, wie die Polizei mit den Kindern und ihren Familien verfahren würde. Zudem scheute ich die ganze Prozedur, die eine Anzeige mit sich bringen würde.

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Der Ort des Geschehens (eigenes Foto)

Was für ein Schicksal wurde da in Gang gesetzt?
Später durchzuckten mich folgende Fragen: War nicht ich der eigentlich Schuldige, Verantwortliche, der aus Fahrlässigkeit einem Burschen die Gelegenheit bot, förmlich hinterrücks zu Geld zu kommen? Wer weiss, wie ihn die Armut drückte? Und war er nicht fast ebenso unfreiwillig zum Dieb geworden wie seine jüngeren Spielkameraden zu Komplizen? Was für ein Schicksal wurde durch diesen Vorfall in Gang gesetzt?


Einsortiert unter:Indien 2013, Tagebuch

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