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Theater und Ritual
Im Zuge der Modernisierung, so eine recht einfache, teleologisch angelegte These, hat die Kultur die Religion verdrängt: Die Menschen gehen heute nicht mehr in die Kirche, sondern ins Theater. Eine sehr gewagte These, in den Augen eines objektiven Betrachters, kommt man doch nicht umhin zu bemerken, dass noch immer eine beträchtliche Anzahl Menschen in die Kirche geht und dass, andererseits, das Theater bei weitem nicht so gut besucht ist, wie eine solche Annahme vermuten lassen würde. Aber dass Thesen, die Prozesse nachzeichnen, oft nicht auf Genauigkeit, sondern auf Grundsätzlichkeiten zielen, sollte bekannt sein. Unter dieser Voraussetzung scheint der Satz: „Heute ist Theater, was früher Kirche war“ durchaus annehmbar. Was genau soll man sich unter dieser Aussage aber vorstellen? Die Kirche – Institution mit großen, weit zurück reichenden Traditionen, religiöses Mutterschiff, Herberge einer ganzen Reihe von lebensbestimmenden Überzeugungen – soll verdrängt worden sein von einer profanen Einrichtung der flüchtig-erlebnishaften Unterhaltung? Das sonntägliche Ritual der sich erneuernden Religiosität, der sich ewig wiederholenden Wertschätzung des Opfers Christi, der Bitte um Vergebung der Sünden soll abgelöst worden sein, einfach verschwunden, ohne adäquaten, wenn nicht ähnlichen, so doch wenigstens vergleichbaren Ersatz? Oder ist das Theater mehr – ein kulturelles Ritual? Führen wir uns kurz vor Augen, was ein Ritual eigentlich ausmacht. Häufig wird der Begriff verwendet, um sich auf immer gleiche oder doch ähnliche Weise wiederholende Vorgänge zu beschreiben, die dann als ‚ritualisiert’ oder ‚rituell’ betitelt werden. Beschränkt man das Verständnis von ‚Ritual’ allerdings auf diese stark vereinfachte Definition, so gelangt man schnell zu einem Punkt, an dem man das morgendliche und abendliche Zähneputzen als ‚Ritual’ oder zumindest als ‚rituelle Handlung’ bezeichnen muss. So betrachtet, fällt natürlich auch das Theater unter diese Kategorie: rituelle Platzsuche, rituelles Klatschen, rituelle Saalverdunkelung…. Doch scheint mir ein solcher Ritualbegriff doch sehr verkürzend. Wiederholung kann doch nicht das einzige Kriterium sein! Und tatsächlich: Im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie beispielsweise lassen sich drei wichtige Aspekte festhalten: 1) Legitimierung der gesellschaftlichen Ordnung über Vermittlung einer Ursprungsnormativität; 2) Stattfinden einer Verwandlung; 3) Tendenzielle Unveränderbarkeit der verbalen und nonverbalen Bestandteile der Ritualaufführung.
Ja, Wiederholbarkeit und effektive Wiederholung sind also wichtige Aspekte, aber erst Legitimierung und Verwandlung komplettieren das Ritual. Im christlich-religiösen Ritual finden wir beides in Christus. Christus als Legitimierungsinstanz, die durch Aufopferung und durch die Verbreitung ihrer Werte die Ursprungsnormativität herstellt, an der die kirchliche Gemeinschaft sich nun orientiert und zu der sie hinstrebt: Liebe deinen nächsten wie dich selbst, halte auch die andere Wange hin, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Christus ebenso als Inbegriff der Verwandlung: Sein Leib wird zu Brot, sein Blut zu Wein. Wenden wir uns aber dem Theater zu, so wird die Identifizierung dieser beiden Momente schon schwieriger: ‚Das Theater’ lässt sich wohl kaum wie ‚die Kirche’ auf einen begrifflichen und referentiellen Nenner bringen, ‚das Theater’ repräsentiert eben nicht ein einzelnes Weltbild, einen einzelnen Glauben, eine einzelne Ansicht, sondern vereint ganz im Gegenteil die unterschiedlichsten Perspektiven. Jedes aufgeführte Stück ist anders, Komödie, Tragödie, Lustspiel, Trauerspiel… nicht vergleichbar mit der Messe, die doch immer mit demselben Ernst, derselben Feierlichkeit begangen wird… oder? Nun, ja, aber: In all ihrer Unterschiedlichkeit haben die meisten (oder gar alle?) Theaterstücke, die es zur Aufführung bringen, doch eins gemeinsam. Sie referieren auf dasselbe kulturelle System, inszenieren die Werte und Normen der westlichen Gesellschaft, indem sie sie explizieren, oder aber indem sie sie implizit mittransportieren. Oder könnte man sich im Jahr 2009 eine Inszenierung vorstellen, in der der Held ein Judenhasser und Antisemit ist? Genau wie in der Messe wird auch in der Theateraufführung ein allen Beteiligten gemeinsamer Deutungsrahmen vorausgesetzt, der auf gemeinsamem Wissen, Hintergrund und gemeinsamen Wertvorstellungen beruht. Auch im Theater findet sich eine Art ‚Ursprungsnormativität’, ein Soll-Zustand, den es anzustreben gilt. Beispiel: Kleists Der zerbrochne Krug weist durch die Kritik am korrupten Justizsystem auf einen Soll-Zustand hin, in dem die Justiz funktioniert. Die ‚bessere Welt’ wird in der Darstellung der kritisierten Gegenwart praktisch als Schablone impliziert, von der sich die inszenierte Handlung negativ abhebt. Ob man in diesem Zusammenhang aber auch von einer Legitimierung der gesellschaftlichen Ordnung sprechen kann, bleibt fraglich. Andererseits ist vielleicht die Legitimierung bei einem aus dem religiösen Kontext heraus gelösten Ritual weit weniger wichtig, ist doch die Kultur, im Gegensatz zur Religion, täglich sicht- und greifbar und muss sich somit nicht auf metaphysische Instanzen berufen, um ihr Dasein zu erklären, wohingegen die Religion und der Glaube sich nur auf ebensolche Instanzen stützen und ihre Legitimation nicht einfach aus der physischen Präsenz ihres Gegenstands beziehen können – da ebendiese nicht gegeben ist. Außerdem: so gesellschaftskritisch ein Theaterstück auch sein mag, durch seine Kritik transportiert es doch immer noch die gesellschaftlichen Regeln mit, es bietet keinen konkreten oder kompletten Gegenentwurf, sondern bewegt sich doch zumeist wenigstens mit seinen Urteilen und Bewertungen noch immer innerhalb des (kritisierten) Systems. Vielleicht ist auch dies schon Legitimierung genug….
Kann man aber im Theater auch von einer ‚Verwandlung’ sprechen, die alle Beteiligten betrifft? Ist das Publikum im Theater tatsächlich mehr als nur Zuschauer, wird es – vergleichbar mit den Gläubigen in der Messe – zum Teilnehmer? Zumindest was die Tragödie betrifft, ließe sich hier vielleicht mit dem aristotelischen Konzept der Katharsis argumentieren. Der Zuschauer erfährt eine Art Reinigung, eine Befreiung von den aus dem rechten Maß herausschwellenden Leidenschaften. Er leidet mit, wenn der Held untergeht, erfährt rasenden Zorn, Lust, Leid und geht dann mit einer größeren inneren Ruhe aus dem Schauspiel heraus. Trotzdem – die Passivität des Theaterpublikums lässt sich nicht leugnen, sofern man von neuen, im Zuge der performativen Wende auftretenden ‚Events’ absieht, in denen die Teilnahme des Publikums einkalkuliert ist. Dort allerdings geht wiederum die tendenziell unveränderte Wiederholbarkeit verloren – der Reiz besteht ja hier gerade in der Unvorhersehbarkeit der Geschehnisse! Ein Theaterpublikum hat in der Inszenierung keine feste ‚Rolle’, seine Reaktionen sind eben nicht, wie in einem Ritus, festgelegt und – vor allem – sie haben keine Bedeutung über sich selbst hinaus. Der Katholik, der in der Kirche vom Priester die Hostie entgegen nimmt, wird dadurch mit Christus vereint, der Zuschauer, der im Theater klatscht, bekundet sein Gefallen an der Inszenierung, oder aber er klatscht aus reiner Höflichkeit, weil es sich so gehört. Die Reaktionen des Publikums sind in Bezug auf die Bedeutung der Inszenierung – bedeutungslos. Wenn auch das Publikum von The Rocky Horror Picture Show noch so viel Reis wirft oder Wasserbomben auf die Bühne schleudert, so würde die Inszenierung doch auch ohne diese Intervention fortschreiten. Man stelle sich aber mal eine Messe vor, in der niemand zur Eucharistie geht…
Das Theater mag also, was die Sonntagsgestaltung betrifft, die Messe weitgehend ersetzt oder verdrängt haben. Ihm aber einen Status als ‚kulturelles Ritual’ zuzuschreiben, bedeutet eine unentschuldbare Verkürzung des Ritualbegriffs. Um diesen Status zu verdienen, fehlt dem Theater der Ich-Bezug. Die Geschehnisse auf der Bühne betreffen den Zuschauer doch immer nur indirekt, sie sprechen vielleicht seine Empathie an, lassen ihn mitfühlen oder vielleicht über seine Gesellschaft und Kultur reflektieren, aber im Großen und Ganzen handelt es sich um ästhetischen Genuss, nicht um Gemeinschaftsbildung, Identitätsbildung oder Legitimierung.