Theater immer wieder neu denken

Claudia Bosse, in Wien mit ihrem theatercombinat ein Fixpunkt in der Off-Szene, stand European Cultural News bereits zwei Mal Rede und Antwort. Lesen Sie in diesen beiden Interviews vom April 2014 und Dezember 2012 was der Theatermacherin bei ihrer Arbeit wichtig ist und was sie sich selbst vom Publikum erwartet.

Interview mit Claudia Bosse, Teil 1
Statements vom April 2014, nach der Aufführung von „What about catastrophes“:

Portraitfoto Claudia Bosse - theatercomibinat

Claudia Bosse (foto: elsa okazaki)

 

Ich glaube, wir sind in permanent instabilen Verhältnissen.

Die Arbeit, die Sie gerade im Tanzquartier gezeigt haben unterscheidet sich erheblich von früheren.

Ja, sie ist völlig anders aufgebaut und hat einen ganz anderen Fokus.

Das Werk war direkt episch angelegt. Täuscht mich der Eindruck, dass die Interaktion mit dem Publikum dabei auf ein Minimum zurückgefahren war?

Das stimmt. Es ging mir in dieser Arbeit weniger darum, einen komplett begehbaren Raum zu schaffen, sondern eine Zeiterfahrung anzubieten. Der Zuschauer kann sich dabei durchaus mit seinem Körper anders verhalten als sonst im Theater aber es ging mir mehr um die geteilten Zeiträume, die sich im Verlauf des Abends verändert haben.

Mit den „Zeitbremsen“, die sie eingebaut haben, werfen Sie das Publikum sehr auf sich selbst zurück.

Wenn man mit dem groben Thema von Katastrophen arbeitet gibt es immer eine bestimmte Erwartung zu den Zeitlichkeiten. Mich interessierte, wie die unterschiedlichen Zeiterfahrungen in die Ökonomie des Theaters zu überführen sind, speziell in so einen Raum, der räumliche und zeitliche Erwartungen in sich trägt. Ziel war es, dass die Instabilität vielleicht in stabileren Verhältnissen stattfindet.

War der Entstehungsprozess ein anderer als bei den vorherigen Produktionen?

Sehr. Einerseits weil die Arbeit dazu nicht immer in dem Raum stattgefunden hat in dem sie dann aufgeführt wurde. Das heißt, die Arbeit daran hat in verschiedenen Räumen stattgefunden und wurde dann erst zum Schluss in den Raum adaptiert in dem sie aufgeführt wurde. Auf der anderen Seite habe ich parallel zu den Proben versucht, Material zu generieren, das in Raumelementen und Soundinstallationen zugänglich gemacht wurde, die zu kleinen Rückzugsorten in diesem Raum wurden. Was den Text betrifft, habe ich dieses Mal nicht mit Montagen gearbeitet, die miteinander verwoben wurden, sondern ich habe mich gefragt, wie kann ich eine Dramaturgie finden, die eigentlich keine Dramaturgie ist. Ist es möglich, in einem Theaterraum, in dem ich immer eine zeitliche Abfolge habe, eine Chronologie von Abläufen, so etwas wie gleichwertige Teile zu schaffen? Und wie können die kombiniert werden, dass immer die fünf Agenten, die Tänzer und Performer diese Situationen gemeinsam initiieren. Dabei sollten die unterschiedlichen Situationen für einen gewissen Zeitraum existent sein, um dann wieder zu verschwinden. Ich habe einerseits versucht, über einen großen Fluss zu arbeiten und andererseits wieder über Unterbrechungen, durch die dann wieder etwas anderes passiert. Ich habe versucht, dass diese verschiedenen Sequenzen für sich selbst sprechen, Informationen, Affekte und Emotionen erzeugen und das nicht nur über die Stellung im Gesamtablauf.

Dennoch hatte ich den Eindruck, dass es einen großen Spannungsbogen gab.

Durchaus, aber nicht mehr in dem Sinne von einer einzigen zusammenfassbaren Aussage. Das ist durchaus auch so gebaut aber dennoch könnte jedes Element alleine für sich stehen. Wenn man z.B. die Anfangssequenz hernimmt, in der es ein Ringen um einen Diskurs gab Dinge zu fassen, die man eigentlich nicht fassen kann. Dieser Teil war für mich ein sehr komödiantischer, den die Menschen unterschiedlich lesen konnten, was für mich vollkommen in Ordnung war. Es war mir wichtig, dass die verschiedenen Sequenzen unterschiedliche Energiefelder hatten, sich aber zugleich einer bestimmten Zuordnung verweigerten. Im Zusammenhang mit einer Katastrophe gibt es immer das Ringen um Kausalzusammenhänge die sich einem aber permanent entziehen. Ist so eine beunruhigende Ruhe in eine theatrale Situation zu übertragen, die keine Analyse der Funktion einer Katastrophe in der Gesellschaft abliefert, sondern einen ästhetischen Erfahrungsraum liefert in dem es unterschiedliche Zugriffe gibt auf die Fragestellung.

Stimmt mein Eindruck, dass es dennoch eine Metabotschaft gab, die man heraushören konnte? Dass Katastrophen, welcher Art auch immer, zum Menschsein gehören sich aber aus den Katastrophen auch wieder ein neues Menschsein gebiert? Aber auch, mit dem Beispiel der Apokalypse, das sie anführen, Katastrophen wie diese epische eben auch nur konstruierte Katastrophen sein können?

Ja, durchaus, sehr sogar. Ich glaube, dass wir immer wieder versuchen, Illusionen von Stabilitäten herzustellen. Ich habe aber stark den Verdacht, dass es diese Stabilitäten gar nicht gibt, sondern dass die finale Katastrophe ein episches Konstrukt ist, um sie wie eine Illusion in einer vermeintlich stabilen Gesellschaft aufrecht erhalten zu können. Ich glaube, wir sind in permanent instabilen Verhältnissen. Es gibt diese Stabilität nirgends. Eigentlich sollte die Produktivität oder die permanente Gefährdung ein Grundmotiv unserer Existenz sein. Sei es im Sinne von gesellschaftlichen Verhältnissen, von existentiellen Fragen, von politischen Zonen oder ökonomischen Verhältnissen. Ich fand auch sehr interessant, was es bedeutet, in einer Gesellschaft aufgewachsen zu sein, wo es diese Vorstellung über das letzte Gericht gibt. Wie wird hier die Angst vor der Abrechnung und dem Zusammenbruch geschult und wie versperrt das eigentlich den Moment. Wie kann man den Moment selbst anwesend machen, das war mir eine sehr wesentliche Fragestellung zu dieser Arbeit.

Wie stellen Sie sich das ideale Publikumserleben dieser Produktion vor oder anders, wer ist für Sie der oder die ideale Zusehende?

Jemand der mit kritischen Parametern sowohl analytisch als auch emotional an das herangeht, was er sieht. Sowohl körperlich als auch was bestimmte Ereignisse als Assoziationen aufrufen als auch zu schauen, was tritt mir da eigentlich wie entgegen. Mir ist es wichtig, dass die Fragen von was und wie in ein richtiges Verhältnis gesetzt werden. Dabei gilt es zu bedenken, dass das Theater nicht eine Art von Vorführen von etwas ist und nicht etwas ist, wo man eine amüsante Zeit verbringt in der man pointiert Dinge sieht, die man ohnehin schon weiß. Sondern wo diese zeitlichen ästhetischen Verunsicherungen zurückgreifen sollen ins Leben oder in andere Überzeugungen. Es stellt sich die Frage, ob man es selbst schafft, im Theater „dort“ zu sein, sich mit den Dingen in einer selbst bestimmten Weise auseinanderzusetzen.

Was geschieht mit dieser Produktion weiter?

Wir werden mit der Produktion einen Abstecher nach Athen machen, die Arbeit dort in einen komplett anderen Raum anpassen. Ich überlege auch, die Arbeit vielleicht noch einmal in anderen Räumlichkeiten in Wien zu zeigen, aber erst 2015. Ab Sommer wird dann die Folgeproduktion begonnen vorzubereitet zu werden, die dann im September in Düsseldorf uraufgeführt wird. In einem ehemaligen Theater, das aber eigentlich nur mehr eine Art Ruine ist. Was sehr schön ist. Das ist die nächste Station, die dann „catastrophic paradise“ heißt.

Interview mit Claudia Bosse, Teil 2

Statements vom Dezember 2012 nach der Uraufführung von „designed desires

 Das, was eigentlich notwendig ist, ist Neugierde.

Ihre Abende mit dem theatercombinat haben in Wien schon Tradition. Wie werden diese denn vom Publikum angenommen?

Sehr gut eigentlich, wir sind oft ausverkauft.

Die Zusammenarbeit mit ihren Performerinnen und Performern stelle ich mir nicht leicht vor. Es ist ja keine wirklich homogene Truppe, sondern es sind viele Menschen, die unterschiedliche Backgrounds haben. Wie gestaltet sich so eine Arbeit eigentlich?

Es gibt eine Gruppe von Personen, die hier nicht-bezahlt und freiwillig mitmacht und die schon bei der einen oder anderen Arbeit dabei war. Die andere Gruppe sind Schauspieler, Tänzer oder Performer aus unterschiedlichen Ländern wie Australien, England oder Frankreich, die sehr bunt zusammengewürfelt sind. Das Wichtigste bei einer Arbeitskonstellation für ein bestimmtes Projekt ist ein Gefühl zu entwickeln, wer mit welchem Wissen, welche Persönlichkeiten wie miteinander was eventuell möglich machen können.

Sie gehen ja von einem Grundkonzept in ihrer Arbeit aus, das Sie mitteilen, dann mit den Leuten arbeiten und auch darauf eingehen, wie sich die Dinge entwickeln. Wie ist denn eigentlich der Anteil zwischen dieser Grundkonzeption und dem, was dann aus dem Prozess entsteht? Ist das Kollektiv stärker als die Idee, die von Haus aus da ist?

Es sind ganz grundsätzlich verschiedene Arbeitsschritte. Einerseits benötigst du ein Grundinteresse, warum du eine bestimmte Arbeit machst. Dann ist es wichtig, aus dem, was vorhanden ist, Qualitäten herauszuarbeiten. Zunächst gibt es die groben Annäherungen, dann gibt es die Phase, in der unterschiedliche Teilmaterialien entstehen, als kleine Einheiten die gesetzt sind, oder auch als Fragestellungen. Ich sage dann zum Beispiel: Zeichne deinen Körper heute auf ein Blatt Papier und setze verschiedene Elemente hin, die den Körper zu dem gemacht haben, was er jetzt ist. Das ist im Grunde ein Tool das jeder sehr unterschiedlich bearbeitet und aus dem dann Material entsteht. Das wird dann vorgestellt und von mir auch kommentiert. Daraus versteht man, wie jeder denkt und welche Möglichkeiten jeder hat. Das sind oft sehr stark dialogische Arbeiten, aus denen das Grundmaterial entsteht. Der nächste Prozess ist, aus den Einzelteilen das Stück zu bauen, in Stimmlagen, Rhythmen, Energien, Abhängigkeiten und dann die Übergänge zu erarbeiten. Das ist so ein bisschen wie ein Setzkastenprinzip. Dann probiert man das Material – das eine zu dem Punkt, das andere zu etwas anderem. Oder ich sage: Wenn sie das macht, dann machst du das. Dadurch gibt es ein starkes materielles Wissen, das aber erst im Prozess entsteht. Das Grundinteresse ist keine Idee, die über etwas steht. Wenn ich die Leute bitte, etwas zu tun, weiß ich, was mich daran interessiert, aber ich weiß nicht genau, wie es aussieht. Ich habe z.B. mit Blickchoreografien gearbeitet, im Sinne von: Wie sind die Blicke? Eher fragil und ausweichend? Das heißt, ich arbeite da über körperliche Konstitutionen. In einer Sequenz konstituiert man sich so – und wo liegt der Übergang, dass das dann wieder zerfällt und woanders hin geht. Diese Positionen sind schon sehr genau gesetzt. In diesem Durchspielen, in dem viel Feinjustierung ist, merkst du, wie das jeder auch begreift. Dann kommt wieder eine neue Phase. Das ist das Wissen über diese Gesamtökonomie. Dann definiert jeder die Lücken darin, weil jeder permanent sichtbar ist. Bei uns gibt es keinen Offstage. Das heißt, du bist nie im Off auch wenn du wie bei „designed desires“ deinen BH ausziehst oder die Schuhe anziehst – diese Handlungen sind präsent. Sie sind genauso wichtig wie der Mainact. Das bedeutet deine Präsenz zu hinterfragen, wer bist du da in dieser Präsenz, wie viele verschiedene Wechsel gibt es eigentlich von dem, wie du dich selber definierst? Und dann kommt der Prozess mit den Zuschauern, wo sich dann noch einmal Sachen verschieben. Wo man da merkt: Ok, die Leute reagieren so oder so. Die Aufführungen sind meist sehr, sehr unterschiedlich. Die Publikumsreaktionen sind ja gewissermaßen mitchoreographiert, wobei man nie weiß, was aufgegriffen wird. Dabei merkst du, wie dieser soziale Körper, der sich für zufällig für diese Aufführung zusammenfindet, Anwesenheit, Konzentration und Bedeutung erzeugt. Wenn drei Leute bei halbnackten Frauen geekelt wegschauen, macht das was anderes, als wenn alle fasziniert zuschauen. Diese Reaktionen informieren das Gesamte. Dann kommt noch dazu, dass die Darsteller alles sehen. Dadurch, dass sie nicht geschützt sind vor einem dunklen Loch, nennen wir es Zuschauerraum, ist jeder Moment sichtbar. Die Leute haben natürlich eine wahnsinnige Verantwortung, aufzunehmen, worum es gerade in dem Moment geht. Zum Beispiel ein Mann macht eine Performerin in der Aufführung an. Für sie stellt sich die Frage: Wie gehst du damit um? Wie deutest du das um, dass du Projektionen erzeugst und wie kannst du die wieder abstreifen?

Bestimmte Reaktionen sind im Vorfeld wahrscheinlich gar nicht einzuüben, weil unter Umständen bestimmte Aktionen gesetzt werden die gar nicht vorgesehen waren.

Man kann im Vorfeld auf gewisse Sachen vorbereiten. Es gibt immer Performer, die in ähnlichen Gesamtraumchoreographien bereits mitgearbeitet haben, die darauf schon vorbereitet sind. Ich versuche zu sensibilisieren, was welchen Unterschied macht. Einfach um ein Unterscheidungsvermögen zu haben, was auf dich als Spieler zukommt. Möglichkeiten zu haben, die Reaktionen einzuordnen und zu verändern.

Verschwimmt hier nicht die Grenze zwischen Schauspielerin- und Schauspielersein und privatem Sein?

Nein. Es gibt ja unterschiedliche Charaktere, die sich darin zeigen, wie sie mit Öffentlichkeit oder der jeweiligen Fragestellung umgehen. Manche sind zu Beginn schamhaft mit ihrer Stimme, andere deklamieren zu Beginn, wie man ein Gedicht deklamiert. Das Verstehen ihrer Position im Ganzen, über die Reaktionen und Wiederholungen die da passieren, generiert ein Wissen, das das Geschehen von Mal zu Mal reicher macht, obwohl der Ort trotzdem immer total fragil ist. Trotzdem bist du nicht als Privatperson dort, sondern die Weise, wie du dich dort räumlich verortest, wie du auf die anderen reagierst, wie du deinen Körper in bestimmten Situationen definierst, bearbeitest und einsetzt, ist ein sehr genaues Unterscheidungsvermögen, worum es im jeweiligen Moment geht. Diese Konzentration auf eine hergestellte Situation für alle ist wie der „andere“ Ort zu sich selber, in diesem öffentlichen Herstellen, der aber immer eine bestimmte Konzentration hat.

Um noch einmal konkret nachzufragen. Sie heben sich vom herkömmlichen Theater ja bewusst ab, suchen oft Orte, die außergewöhnlich sind und gehen in die Interaktion mit dem Publikum. Spielen die Menschen in ihren Stücken eigentlich noch Theater oder bleiben sie in ihren privaten Rollen?

Ich glaube weder noch. Spielen ist ja immer ein Vorzeigen von etwas Gewusstem. Es ist eher die Methode, die ich auch als Angebot an die Zuschauer stelle, dass in diesem Zeitraum der einzelne Körper oder der Körper im Verhältnis zu dem anderen Körper in eine Ausnahmesituation gerät. Es ist einerseits klar, dass es ein Spiel ist. Ein Spiel im Sinne einer nicht alltäglichen Übereinkunft, in dem aber die Übergänge zwischen dem Alltag und dieser besonderen Situation ständig brüchig bleiben müssen oder sollen, weil es eben keine Illusion ist. Man sieht, wie jedes Element sich herstellt. Es geht nicht um einen Effekt von etwas, sondern es ist das Herstellen von Versetzungen oder Veränderungen oder Verfremdungen, von Elementen zueinander, die man aber bewusst betreibt. Das heißt, es ist ein bestimmtes Bewusstsein vorhanden, das heißt aber auch in dem Ausführen bin ich kein anderer. Ich führe aber etwas aus, was ich sonst nicht unbedingt tun würde. Ich tue es in dieser Kondition des Spiels, aber ich weiß, ich tue jetzt diese Handlung in diesem Rhythmus, in dieser Konstellation mit den anderen, in dieser Situation mit den Zuschauern.

Sie erwarten von ihrem Publikum ja nicht nur körperliche Präsenz, mit der Sie wie mit einem Leitsystem arbeiten, sondern Sie wünschen sich ja auch, dass etwas beim Publikum ankommt. Ist das von Produktion zu Produktion etwas anderes oder gibt es eine Grundintention?

Ich glaube, mit ihrer Frage hängt auch ganz stark zusammen, warum ich NOCH Theater mache. Was mich daran interessiert ist, dass ich den Eindruck habe, man kann über eine zeiträumliche Vereinbarung Dinge mit und in der Gesellschaft anders bearbeiten, als man sie in den herkömmlichen Räumen ausverhandeln kann. Grundsätzlich zum Theater: Ich habe den Eindruck, man kann immer politisch und gesellschaftlich in diesen Kippmomenten arbeiten. Was mich interessiert ist, dass man nicht Wirkungen konsumiert, sondern Haltungen provoziert oder affiziert gegenüber dem, was gezeigt wird. Es werden somit nicht Sachen gezeigt oder hergestellt, mit denen man rundherum einverstanden sein sollte, im Sinne von: Das ist so schön, oder was auch immer, sondern es entstehen immer Konstellationen die für jedes Stück versuchsweise mit einer speziellen Methode vom Betrachter Haltungen oder Entscheidungen verlangen.

Gehört dazu ganz überspitzt dargestellt nicht auch ein sehr reflektiertes und elaboriertes Publikum?

Dazu würde ich Nein sagen. Das Schlimmste ist das halb-elaborierte, von sich überzeugte Publikum, weil das selten in der Lage ist, noch zu hören und zu sehen und wahrzunehmen.

Haben Sie dieses in Ihren Vorstellungen?

Ja, da gibt’s auch immer einige. Aber die sieht man, die erkennt eigentlich jeder sofort. Das ist das Schöne, dass das sehr transparent ist. Das was eigentlich notwendig ist, ist Neugierde. Ich glaube, dass die Neugierde nicht mit einem Bildungsgrad zusammenhängt, sondern mit der Furchtlosigkeit neugierig zu sein, wahrzunehmen und dem, was man wahrnimmt, zu vertrauen. Und eben nicht auf eine Autorität zu setzten, die einem erklärt, wie was jetzt zu laufen hat. Die Variabilität der Schlüsse respektiere ich und finde ich auch wesentlich. Die ist je nach Arbeit auch unterschiedlich groß.

Fühlen Sie sich durch die Reaktionen auch manchmal missverstanden?

Es gibt immer interessante Momente. Eines meiner Schlüsselelemente war, als wir „dominant powers. was also tun?“, mit einem arabischen Chor und unter komplett anderen Bedingungen in Tunis spielten. Das war im Rahmen eines Festivals, den „Journées Théâtrales de Carthage“ – die das Motto „Le théâtre fête la Révolution“ hatten. Das war sehr interessant festzustellen, wie kulturell konnotiert die Reaktionen und die Wahrnehmung des Publikums sind. Es gab eine Zuschauerbegrenzung, aber es waren mehr als doppelt so viele Leute in der Vorstellung. Und dann hast du gemerkt, dass meine Konvention eines aufmerksamen Zuschauers dem überhaupt nicht entsprochen hat. Die selbstkörperliche Orientierung der Leute war komplett anders, aber sie waren wahnsinnig interessiert. Sie waren unglaublich direkt und konkret. Das war auch deswegen im Vergleich interessant weil man hierzulande versucht, etwas als intellektuelles Theater zu labeln, nur weil man über bestimmte Sachen nachdenkt. Ich habe nichts gegen intellektuelles Theater. Es ist interessant, dass über die verwendeten Ästhetiken versucht wird, Ausschluss zu produzieren. Ich glaube aber, dass das woanders herkommt. Und das war dort etwas komplett anderes. In einer sehr unmittelbaren und fordernden Auseinandersetzung.

Das Thema der arabischen Revolution ist dort natürlich auch noch viel greifbarer und hat wahrscheinlich auch noch viel mehr aufgewühlt.

Ja. Es war total interessant zu merken, wie sind dort die Frauenkörper präsent, wie zeigst du die oder nicht. Zeigst du die anders, oder wie konfrontierst du sie mit deinem Standpunkt, der natürlich immer der Mitteleuropäische ist und bleibt. Das war natürlich ein Konflikt mit offenem Ausgang. Das ganze Verhalten hat überhaupt nicht dem entsprochen, was ich bis dahin gekannt habe. Das war Zero aufmerksames Theaterpublikum. Aber die Diskussionen und was dann alles daraus entstanden ist, hatte eine komplett andere Qualität und Dringlichkeit.

Wie kam es zu dieser Idee mit einer Produktion in ein anderes Land, mit einer anderen Sprache und einer anderen Sozialisation zu gehen?

Als wir „dominant powers“ gezeigt haben, hat die Produktionsleitung gefragt, was ich mir denn eigentlich wünschen würde, worauf ich geantwortet habe, dass ich das am liebsten in Kairo, Alexandria oder in anderen arabischen Ländern zeigen würde, um einfach meinen naiven Blick zu konfrontieren und prompt kam die Einladung. Ich glaube aber, dass jede Ästhetik immer kulturell und ideologisch ist. Das zu kapieren, wie relativ das ist und wie abhängig das von verschiedenen Umfeldern wie politischem Kontext, Übereinkünften etc. ist, das finde ich so gesund und grundnotwendig, weil man sich der Befragbarkeit oder auch Abhängigkeit der eigenen Äußerungen bewusst wird. „dominant powers“ war in Zagreb etwas komplett anderes als in Wien oder Tunesien. Den Vorschlag des Stückes habe ich je nach Umfeld verändert, das Grundskelett aber behalten. Am liebsten würde ich nur das tun.

Nach Asien zu gehen, oder nach Südamerika zum Beispiel?

Ja, weil du konfrontiert wirst. Du musst dich mit Sachen auseinandersetzen, die mit der Organisation zu tun haben.

Sie sind, was Ihre Stücke betrifft, in einer beneidenswerten Position, weil Sie und vielleicht noch Ihr Team die Einzigen sind, welche die komplette Übersicht über das Stück haben. Das Publikum kann ja nur immer ausschnitthaft sehen und teilhaben.

Ja, das stimmt einerseits. Aber im Grunde gilt das auch für das Team und für mich auch. Ich weiß natürlich, was ich produziere und ich kenne natürlich auch das Einzelmaterial, aber ich weiß natürlich nicht, was in dem jeweiligen Moment passiert, das weiß niemand. Aber ich glaube, das Wissen schreibt sich immer ein in die nächste Arbeit.

Halten Sie diese Erfahrungen, die sie in den unterschiedlichen kulturellen Kontexten machen, irgendwie fest, schreiben Sie darüber?

Ja, natürlich. Für Lehrtätigen und Vorträge kommt der Moment, das zu ordnen. Dafür muss man sich selber ganz anders denken.

Anders denken im Sinne von: In die einzelnen Rollen, die man spielt, schlüpfen, je nach sozialem Kontext, in dem man sich befindet. Sich eines seiner vielen Ichs zu bedienen?

Ja, sich auch ganz verschiedener Grammatiken zu bedienen und auch mit ihnen zu spielen. Ich hatte da einen Vortrag in Schweden gemacht, in einem Institut für Rhetorik, mit verschiedenen Zugriffen. Und du merkst, dass von den Leuten nichts kommt. Da denkst du dann: Hallo, was ist hier eigentlich los? Und danach kamen sie alle und sagten, wie toll es war. Da merkst du, wie die Konventionen eben anders sind, das Setting ein anderes und eine total andere Mentalität. Und mir wurde dann gesagt, dass es total sensationell war, weil drei Leute etwas gesagt haben! Für mich sind auch Vorträge toll, oder unterrichten, weil es immer eine Chance ist, das ganze Material zu orten und so wiederzugeben, dass Leute, die das nicht erlebt haben, damit etwas anfangen können.

Ist permanentes Lernen, was Sie ja durch Ihre Arbeit erfahren, für Sie ein Motivator?

Ja, schon. Es ist ja der unfassbare Luxus, in diesem Chaos von Welt oder Politik oder Gegenwart oder Geschichte, in dem man sich befindet, einen Punkt herauszunehmen. Zu sagen, ich erlaube mir jetzt den Luxus, von diesem Punkt aus alles zu situieren. Ich kann für den Zeitraum einer Arbeit eine bestimmte Perspektive einnehmen, und wenn ich alles über diese Perspektive betrachte, stellen sich Verhältnisse anders her. Darin lernst du permanent über das, was wir Wirklichkeit nennen, über Arbeitsprozesse, wie etwas entsteht, wie man etwas zusammensetzt oder auch wieder entkleidet. Darüber passiert Erkenntnis, die aber eine andere ist als eine Bucherkenntnis, wenn man liest. Es ist ein anderes Wissen. Es geschieht auf einer Ebene von Körper, Zeit, Raum und Intellekt und die Verschränkung daraus. Und es ist immer eine Arbeit in der Gruppe, die auch dann auf die Gruppe der Zuschauer trifft.

Ihre Theaterarbeit ist eine sehr starke Körperarbeit.

Ja eine Körperarbeit, aber auch eine Denkarbeit. Und es ist ein bestimmter Handlungsraum in der Gesellschaft. Es ist nicht etwas, das man schön anmalt, sondern es ist eine Möglichkeit, Dinge nur in dem Medium des Theaters in seiner Existenz und Widersprüchlichkeit zu formulieren. Das ist in der Linearität z.B. eines Textes nicht machbar. Und es hat etwas damit zu tun, Bruchstellen aufzuarbeiten, die zueinander etwas eröffnen. Ich liebe das Theater, so wie ich es begreife. Mit all den tollen Leuten mit denen ich arbeiten kann und darf. Ich liebe es, das Theater neu zu erfinden und immer wieder neu definieren. In Wien ist es möglich, lustvolle Forschungsprojekte in diesem Medium zu entwickeln und sie auch zu zeigen. Aber zugleich ist man auch mit dem, was man macht, abgestempelt. Es ist ja langweilig, immer dasselbe zu machen. Die Arbeit bekommt dann auch einen gewissen Stil. Aber ich muss immer wieder mein Interesse infrage stellen und weiterentwickeln.


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