Theater, das Schmerzen verursacht

“Die Schutzbefohlenen”, ein Text von Elfriede Jelinek in einer Burgtheater-Inszenierung von Michael Thalheimer, legt eine der größten Wunden unserer Zeit schonungslos offen.

Der hohe, dunkle Raum bekommt seinen sakralen Akzent durch ein überdimensionales weißes Kreuz, das mehr bedrohlich als Trost spendend wirkt. Eine kleine, perpetuierende Geigenmelodie schafft kein Behagen, sondern verweist auf sich anscheinend ewig Wiederholendes. Dann klatscht es laut. Ein Körper fällt in das Wasser, das die Bühne bedeckt. Noch einer folgt und noch einer. Es scheint kein Ende zu nehmen. Gestalten mit verhüllten Köpfen rudern mit Armen und Beinen, ringen nach Luft, schwimmen oder strampeln aus Leibeskräften, um ans Trockene zu kommen. Um aufzustehen und der nassen Hölle zu entkommen.

Schon die erste Szene der „Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek trifft mitten ins Herz, schnürt einem die Kehle zu. Erst vor wenigen Tagen wurde weltweit das Drama jener Flüchtlinge kolportiert, die zu Hunderten im Mittelmeer ertranken. Dreieinhalbtausend waren es im vergangenen Jahr insgesamt. Tendenz nach heutiger Zählung rasant steigend. Das Wasser, das den gesamten Abend über präsent bleibt, in dem die Menschen waten, sitzen, sich aus ihm klitschnass erheben um wieder dorthin zurückzukehren, dieses bestimmende Element in dieser Inszenierung war, als die Autorin ihren Text schrieb, noch bei Weitem nicht so todbringend präsent wie es nun der Fall ist. Der ursprüngliche Beweggrund, die Besetzung der Votivkirche durch asylsuchende Menschen, liegt drei Jahre zurück. Aber die Grundthematik dringt mehr denn je in unser Bewusstsein. Hilfesuchende aus Afghanistan, Syrien, aus dem Osten Europas und dem Norden Afrikas werden in Österreich und ganz Europa als unerwünschte Eindringlinge behandelt, die im besten Fall bürokratisch verwaltet oder im schlimmeren legislativ verfolgt werden. Ein unerträglicher Zustand, den Jelinek in ihrem Text von vielen Seiten aus beleuchtete.

Michael Thalheimer, der Regisseur der Inszenierung, flutete den Bühnenraum nicht nur als Sinnbild für das Mare nostrum. Es erscheint schon wie Ironie, dass ausgerechnet dieser Terminus des “vereinenden Meeres” auch in Zusammenhang mit jenen Operationen Italiens auftaucht, mit denen den Menschen auf hoher See geholfen werden soll. Der nasse Grund, auf dem sich alle, bis auf eine Figur bewegen, symbolisiert auch die Beschwerlichkeit des Lebens in der Diaspora, die Unsicherheit, die damit einhergeht und die Unfähigkeit, sich unter den derzeitigen Umständen auch nur eine kleine Existenz aufzubauen.

Der Chor der Stimmlosen

Die Menschen, die sich schließlich alle aus dem Nass erhoben haben, gruppieren sich und beginnen unisono zu sprechen. Es ist ein Chor der Überlebenden aber Rechtlosen und Dahinvegetierenden. Ein Chor, aus dem sich hin und wieder einzelne Stimmen lösen. Es sind keine No-names, die hier die Namenlosen spielen, sondern gestandene und bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler, die in der Gruppe aufgehen und ihre Individualität verlieren. Nur selten dürfen sie zusammenhängende Textpassagen rezitieren, oft auch nur kleine Wortschnipsel einbringen. Sie erzählen als Flüchtlinge von den Gräueltaten in ihrer Heimat, von Enthauptungen, festgehalten auf Smartphones, von Zurückweisungen und bürokratischen Hürden in diesem unbekannten Land, an denen man per se schon zum Scheitern verurteilt ist. Das Schreckliche, das sie hinter sich haben und das sie fliehen ließ, ist hier irrelevant: „Die Toten gelten nichts und sind nichts“. Sie klagen an, stellen fest, bitten, flehen, fluchen und schimpfen. Aber nichts davon hilft ihnen, ihre Situation zu verbessern. Nach und nach, setzen sie ihre Plastikmasken ab, die sie bis dahin unkenntlich machten. Ein Nachhall der antiken Theaterpraxis in die Jetztzeit übersetzt und auch in Zusammenhang mit der kirchlichen Konnotation ein starker optischer Verweis auf Pussy Riot. Nun zeigen sie ihre Gesichter und damit auch ihre Persönlichkeit, die jedoch nur in kurzen Momenten an Konturen gewinnen. Dann, wenn sie vortreten und über ihre Einzelschicksale erzählen. Aber sie, das geht aus Jelineks Text mit schonungsloser Stringenz hervor, sie haben hier nichts zu sagen, nichts zu bitten, nichts zu erhoffen.

Zahlungen und Singungen

Elfriede Jelinks Bezug zum Geschehen der 2012 in der Votivkirche Asylsuchenden klingt in Passagen wie jener an, in der sie beschreibt, dass der Rasen vor der Kirche nie wieder wachsen wird. An jener Stelle, an der die Bulldozer das Gelände vom Hab und Gut und den Zelten der Flüchtlinge säuberten. Aber es ist nicht notwendig, dieses Ereignis im Kopf zu haben, darüber Bescheid zu wissen. Der Text, so stellt es sich heute jeden Tag wieder aufs Neue heraus, kann auch metaphorisch interpretiert werden und ist im Moment auf grauenvolle Weise aktuell wie nie zuvor. Aischylos „Schutzflehende“, die Metamorphosen des Ovid, „eine Prise“ Heidegger, wie Jelinek es selbst bezeichnet und nicht zuletzt ein Text aus dem Staatssekretariat für Integration dienten der Nobelpreisträgerin für Literatur als zusätzliche Anregungen für ihre Textfläche. Ein Terminus, mit dem sie darauf hinweisen möchte, dass auf der Fläche dieses Textes jegliche Bearbeitung stattfinden kann.

Darin spricht sie auch mit anschaulichen Beispielen über die Ungleichheit zwischen Habenichtsen und Reichen, die sich in der komplikationslosen Einbürgerung von Zahlenden und Gewinnbringern manifestiert. Wie es mit der Tochter von Boris Jelzin geschah oder auch Anna Netrebko. Ghazal Kazemi, die am besuchten Abend diese Sängerin verkörperte und sich die Rolle alternierend mit noch drei Kolleginnen teilt, ist die Einzige, die auf der Bühne trocken bleibt. Majestätisch betritt sie den Raum mit einem überdimensionalen Reifrock, bespannt mit schwarzem Brokat und einer meterlangen Schleppe. „Lascia ch`io pianga“ – Händels berühmte Arie, in der das eigene Leid aber auch die Hoffnung auf Freiheit besungen wird, erklingt, während sich die anonyme Menschenmenge im Hintergrund der Bühne zusammendrängt. Einige junge Studierende, dem Idiom nach aus Deutschland, die die Einbürgerungshistorie des Opernsuperstars nicht kannten, interpretierten diese Figur als Engel. Als ein hoffnungsbringendes Wesen. Doch steht dies in scharfem Kontrast zu den Aussagen, die vom Chor kommen. „Zahlungen und Singungen“, um Jelineks Diktum zu verwenden, sind jene Währung, die aus Ausländern anerkannte Staatsbürger macht und jene abschiebt, die darüber nicht verfügen.

Die starken Textstreichungen straffen das Werk auf eine Aufführungsdauer von eineinhalb Stunden und bringen dadurch eine enorme Konzentration auf die wichtigsten Aussagen und darüber hinaus auch eine starke musikalische Komponente mit sich. Die Entscheidung, einen Chor einzusetzen, verleiht jedem einzelnen Satz vielfaches Gewicht. Jelineks Sprachmusik gipfelt an einigen Stellen in einen liturgieähnlichen Rhythmus, der an das Glaubensbekenntnis erinnert. Aber der Glaube hilft nicht. Gott, dieser eine Gott, ist für wen da? Hilft wem? Nicht einmal sein Haus, in dem die Menschen Zuflucht suchten, hat ihnen Schutz gewährt. „Wie soll der eine Herr denn für alle reichen?“ stellt jemand von den Schutzlosen die Frage in den Raum, die, wie alle andere an diesem Abend auch, unbeantwortet bleibt. „Ach Gott, wer erbarmt sich unser?“ Niemand auf der Bühne, aber auch niemand im Publikum ist derzeit in der Lage, gültige Antworten auf überlebensnotwendige Fragen zu geben.

Die Hoffnungslosigkeit

In den letzten Minuten dieses so dramatischen Abends verlischt sogar das Licht des weißen, übermächtigen Kreuzes. Hoffnungsschimmer gibt es keinen mehr. Die Schutzbefohlenen auf der Bühne versinken endgültig in ein Dunkel, das es schwer macht, sie überhaupt noch zu erkennen. „Sagen Sie uns, warum wir noch flehen sollen…verzeiht uns”, Sätze, die zutiefst beschämen und deswegen im Gedächtnis bleiben. Immer leiser sind die Stimmen zu vernehmen bis sie schließlich ganz verstummen. Die Lichtbrechungen des Wassers schimmern sanft über den Köpfen des Publikums, an der Decke des ehrwürdigen Theaters, wahrnehmbar nur für jene, die den Blick nach oben wagen. Sie zeigen unaufdringlich, dass wir alle Teil jenes grausamen Spieles sind, das sich derzeit auf der ganzen Welt und insbesondere an den europäischen Mittelmeergrenzen abspielt, nicht nur im Burgtheater.


Regie: Michael Thalheimer
Bühnenbild: Olaf Altmann
Musik: Bert Wrede
Licht: Friedrich Rom

mit
Jasna Fritzi Bauer, Sarah Victoria Frick, Alexandra Henkel, Christiane von Poelnitz, Stefanie Reinsperger, Catrin Striebeck, Adina Vetter, Lucas Gregorowicz, Tino Hillebrand, Daniel Jesch, Marcus Kiepe, André Meyer, Tilo Nest, Thomas Reisinger, Daniel Sträßer, Stefan Wieland. Alternierende Sängerinnen: Marelize Gerber, Ghazal Kazemi, Anna Manske und Monika Schwabegger.

Termine: http://www.burgtheater.at/Content.Node2/home/spielplan/event_detailansicht.at.php?eventid=963462761


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