Vergangenes Jahr habe ich Willy Vlautin und seine Band „Richmond Fontaine“ für mich entdeckt und ganz nebenbei herausgefunden, dass auch ein vielversprechender Schriftsteller in Vlautin steckt.
Sein Debütroman „The Motel Life“ war schnell gelesen und hat stilistisch wie auch erzählerisch überzeugt. Sparsamer Spracheinsatz, eine sehr direkte, ganz nah am Alltagsjargon der Protagonisten angelegte Prosa und die ausgesprochen bildhafte Schilderung der Ereignisse verliehen der Geschichte eine Realitätsnähe, wie man sie in der Literatur ganz selten findet. Darüber hinaus bildeten auch die gewählten Charaktere des Buches eine Abweichung von der Norm, handelte es sich doch um Repräsentanten jenes Teils der Gesellschaft, die man allgemein als Ausgestoßene, Randgruppen oder Verlierer bezeichnet.
Auch Vlautins zweites Buch „Northline“ hält sich an die oben beschriebene Grundstruktur und schafft es, trotz einer anfänglichen Sorge meinerseits, darin bloß „mehr desselben“ vorzufinden, eine gleichermaßen abgründige wie bewegende Geschichte zu erzählen. Dass das Augenmerk Vlautins auf den Absteigern der Gesellschaft ruht, oder gar auf jenen, die von vornherein keine Chance haben, hat Literaturkritiker, die sein Debüt mit großem Wohlwollen, ja mit dem einen oder anderen euphorischen Lobesgesang begleitet haben, dazu veranlasst, ihn gerne auch als Schriftsteller der „Disenfranchised“, der Enrechteten, in der Tradition von John Steinbeck oder Raymond Carver, zu preisen.
Dementsprechend neugierig war ich also auf das jüngste Werk des Autors, welches erst vor Kurzem unter dem Titel „Lean on Pete“ erschienen ist. Vergangene Woche war es so weit und wie bei den beiden Vorgängern hatte ich das Buch innerhalb von zwei Nachmittagen fertig gelesen.
In „Lean on Pete“ erzählt der 15-jährige Charley Thompson seine Geschichte. Mit seinem Vater, einem einfachen Arbeiter, nach Portland, Oregon, gezogen, ohne Mutter, die irgendwann als er noch klein war abgehauen ist, findet sich der Junge in einer fremden Stadt ohne nennenswertes soziales Netzwerk, mit einer einzigen verblassenden Erinnerung an eine liebenswerte Tante, die in Wyoming gelebt hat, wieder.
Während seiner Streifzüge durch die Nachbarschaft entdeckt er eine Pferderennbahn, zufällig trifft er dort auf den Trainer Del, der ihn – es ist Sommer und die Schule hat noch geschlossen – als Stallburschen und Hilfskraft einstellt. Eines von Dels Pferden trägt den Namen „Lean on Pete“ und es wird, nachdem Charleys Vater in einer Schlägerei zu Tode kommt, zur einzigen Ansprache des nunmehr völlig auf sich gestellten Jungen.
Charlie zieht heimlich in die Sattelkammer neben Petes Box und lebt von den unregelmäßigen Lohnzahlungen Dels. Er lernt schließlich sehr schnell, dass Del seine Pferde als bloßes Rennmaterial sieht, das er nur so lange erhält, als es in der Lage ist, wenigstens das eine oder andere mal zu gewinnen, und der Schlächter schnell zum Ausweg wird, wenn die Tiere nicht mehr wollen oder können. Als Charley sich überzeugt sieht, dass Lean on Pete das nächste Schlachtpferd sein würde, stiehlt er in seiner Verzweiflung Dels Truck, samt Anhänger und macht sich mit dem Pferd auf die Fahrt nach Wyoming, auf die Suche nach seiner einzigen Verwandten.
Vlautin eröffnet mit dieser Szene einen Prozess, den man auch aus seinen Vorgängerromanen kennt, es beginnt sozusagen eine Art Passion, ein Leidensweg, der den Jungen, der immer noch Kind ist, durch eine Abfolge von Missgeschicken, von Begegnungen mit, meist, den falschen Leuten, an die Grenzen seiner Belastbarkeit treibt. Vlautin gelingt es auch diese Reise mit wenig Pathos, mit gerade noch genügend Realismus zu beschreiben, um nicht ins Kitschige abzugleiten. Und es wäre auch nicht der Vlautin, den man aus seinen früheren Romanen kennt, würde nicht am Ende doch noch Hoffnung aufkeimen.
„Lean on Pete“ ist also genau das, was man vom Autor Willy Vlautin bisher zu schätzen wusste. Es ist die Auseinandersetzung mit den Außenseitern der Gesellschaft, mit Leuten, denen man üblicherweise aus dem Weg geht, oder über deren Schicksale man sich nur begrenzt informiert, weil man meistens gar nicht so genau wissen möchte, was sich darin wirklich abspielt.
Das Buch ist gewohnt spannend und schafft es, ebenso wie seine Vorgänger, die Leserin bereits nach den ersten Seiten mitten ins Geschehen zu ziehen. Trotz allem aber fehlt etwas. War ich nach der Lektüre von Vlautins erstem Buch (The Motel Life) innerlich aufgewühlt und tief beeindruckt, und selbst beim zweiten Roman (Northline) positiv überrascht, dass der Autor mit einer ähnlichen Geschichte trotz allem noch Neues zu erzählen wusste, so fehlte mir dieses Gefühl am Ende von „Lean on Pete“. Viel mehr macht sich die Sorge breit, dass Vlautin als Schriftsteller vielleicht doch nur verschiede Varianten einer Geschichte in sich trägt und vor allem, dass sich diese Varianten bald nicht mehr viel von einander unterscheiden würden.
Ich kann „Lean on Pete“ noch immer als gutes Buch empfehlen, nicht als sehr gute, aber als in sich schlüssige, stimmige Geschichte, die vielleicht einen kleinen Schuss zuviel an Pathos mitschwingen lässt, etwas zu viel an Verzweiflung und Unglück, eine Erzählung, die ein wenig zu sehr überzeichnet, selbst wenn man bei der Lektüre sicher ist, dass es ähnliche Schicksale in noch schlimmerem Ausmaß geben kann, ja muss, aber ich bin eine optimistische Anhängerin Vlautins und ich hoffe darauf, dass er als Autor die Kurve kratzen wird. Dass er den Leser im nächsten Werk wieder positiv überraschen wird. Darauf hoffe ich nicht nur, weil mir Vlautin persönlich sympathisch ist, sondern auch weil ich ihn stilistisch und davon ausgehend, was er in seinen ersten zwei Büchern an literarischen Versprechen gemacht hat, als Schrifsteller einschätze, der im Moment vielleicht noch seinen Weg sucht, der aber durchaus in der Lage ist, diese Versprechen einzulösen.
Susanne, 6. Juni 2010