Netflix hat sich bislang noch nicht als visueller Denkraum für szenenbildnerisch komplexe Filme hervorgetan. Die Ankunft eines "rauen Zauberers" war notwendig geworden – Orson Welles, Epochenfilmer und Lichtgestalt, landete im Programm des Streaming-Majors. Sechs Jahre (1970-1976) befand sich sein unvollendetes Projekt in Produktion, ehe "The Other Side of the Wind" zu den Filmdosen gelegt wurde. Das Werk eines Schicksallosen: Auch juristische Mittel brachten Welles nicht zu seinem Film zurück. Erste geschnittene Aufnahmen eines Skeletts künden von einer zerronnenen Vision. Sich den vergeblichen Enthusiasmus Orson Welles‘ zu vergegenwärtigen, heißt, Film als Möglichkeitsform zu erfahren. Was wäre, wenn? Was wäre, wenn Orson Welles wenigstens einmal ohne Einschränkungen, zumindest nach "Citizen Kane" (1941), dem Verlangen folgen durfte, das er in sich spürte, um das auf Zelluloid lebendig zu halten, wovon er träumte?
Welles linderte die Wehen des Kinos mit jeder aufgestellten Kamera, die jedoch sogleich dessen Tod einleitete. Auf den letzten Metern entfernte sich für ihn stets das Ziel, der Einlaufpomp künstlerischer Selbstverortung. Welles blieb ein Zufrühkommer, dem Netflix zu einer späten Pünktlichkeit verhalf. Sein letzter fertiggestellter Film war der dekonstruktivistische Essay "F wie Fälschung" (1974), sein Vermächtnis dagegen ein Werk, so schäumend wie blubbernd, das es allen noch einmal nicht recht machen will: den Studios, den Kritikern, sogar dem Kino selbst. Uns. Am Ende seiner Tage musste die Leinwand ein letztes Mal erbleichen. Man gönnt Welles diese Nabelschau, diesen Feldzug im Krieg gegen den Ausdruck. Aus "The Other Side of the Wind", diesem endlosen "Zirkus zerstreuter Seelen", spricht jemand, der zermalmt wurde und im Anschluss nach einer Zigarette oder einem Eis verlangt.
Enttäuschung und Täuschung liegen im Wesen des Kinos begraben, und nach (dem vergleichbaren) "F wie Fälschung" erscheint "The Other Side of the Wind" als eine stilistische Verlängerung dessen, womit der Filmemacher den trügerischen Schein als solchen thematisiert – eine flüchtige Schärfe liegt auf den Dingen. Unweit des fiebrigen improvisierten Menschengewühls aus den Filmen von Godard, Fellini und Cassavetes entfernt, haftet ihnen das Gespür von Apathie und Morbidität an. Der Regisseur Jake Hannaford (Ernest Hemingway: John Huston), fürsorglich "Skipper" oder einfach nur "Jake" genannt, muss die Vorführung seines letzten (ebenfalls unvollendet gebliebenen) Films "The Other Side of the Wind" zweimal unterbrechen – der Projektor streikt. Das Kino kommentiert das Kino. Denn in den Pausen zwischen der Aufführung versuchen stupide Smalltalks und egomanische Balztänze, die sie umschließende Nichtigkeit zu übertünchen. Das Sprechen über Film wird zu Film.
Die Filmbranche transformierte sich in den 1970er Jahren entscheidend. Alte Traumwelten einheitlicher Schablonen wurden durch den Gegenwartsgeist gesellschaftsrelevanter, ästhetischer Systeme befreit, das Kino durchlebte und artikulierte die Krise der Moderne. In "The Other Side of the Wind" verwischen diese Spuren, als wenn es sie nie gegeben hätte. Das Politische hält am Trivialen fest – Reegan oder Reagan? Lilli Palmer muss der Frage ausweichen, ob sie eine Affäre mit Hannaford gehabt habe, der wiederum seinen Hauptdarsteller (Robert Random) sardonisch angiftet. Die Filmkritikerin Juliet Rich (Susan Strasberg) indes beschimpft Hannaford, er solle sich ins B-Movie verziehen. Dem vorausgegangen ist eine Ohrfeige. Hannafords Hauptdarstellerin (die Kroatin Oja Kodard, mit der Welles verheiratet war und das Drehbuch schrieb) beschießt enthemmt Puppen, Liliputaner wackeln durchs Set und "Brooksie" (Peter Bogdanovich) übernimmt die Pressearbeit.
"The Other Side of the Wind" war, wie nahezu alles unter dem widerspenstigen Diktat Orson Welles, seiner Zeit voraus: In Gestalt einer postmodernen Mockumentary collagiert Welles Übriggebliebenes von einem Mauerwerk eines Establishments, das sich zwanghaft erhalten will. Bar jeder Bestimmt- und Bedeutungsgewichtigkeit, geraten die Figuren vor Welles' unheilvollem Kameraauge in einen kosmischen Unbestimmtheitszustand zwischen Unsterblichkeit und Versteinerung. Mittendrin ein Urgestein – John Huston wird geliebt. John Huston liebt, zum Beispiel die 19-jährige Mavis (Cathy Lucas). Die Kamera flirtet mit dieser gelüstigen Maskulinität, hält sie nichtsdestoweniger respektvoll auf Abstand. Seinen Film, den letzten, sieht er sich konzentriert, eingehüllt in Rauch und Licht, an. Was mag er dabei denken? Was mag Orson Welles denken? Die Großaufnahme hatte bei Welles immer eine ambivalente Heiligenstellung. Sie stützte und stürzte gleichermaßen die Großen.
Auch wenn Welles' filmisches Testament nicht mehr in eine Zeit omnipräsenter intermedialer Verweise passen will und daher nicht ein zu unterschätzendes Durchhaltevermögen gegenüber seinem Publikum einfordert, ist es Frank Marshall und seinem Team gelungen, das manische Moment Orson Welles, die Organik eines Kinos aus dem Jenseits, aufrechtzuerhalten. Dies zeigt sich besonders in "The Other Side of the Wind", dem "Film im Film" – Robert Random und Oja Kodar necken sich wie einst Mark Frechette und Daria Laprin in Antonionis "Zabriskie Point" (1970). Sie sind nackt, haben Sex, spielen und treiben ätherisch durch Sand und Industrie. Zwischendurch beugen sie sich den Regie-Direktiven aus dem Off. Das ist Orson Welles' diskrete Begierde. Das Kino muss sich entblößen, um sich wiederzufinden, während es sich sucht. Vielleicht beginnt es damit auf Netflix.