The Loop

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Quilotoa

Nach zweistündiger Busfahrt und mehr als dreistündigem Marsch komme ich an der Laguna Quilotoa an. Auf der endlos wirkenden Straße, den erschreckend viel Müll säumt, begegne ich haufenweise Kindern: Sie treiben Schafe vor sich her; sie tragen Leinensäcke voll Gräser heim; die Jüngsten spielen Seilspringen, Fangen oder lassen Drachen steigen. Einige sogar folgen mir neugierig. Männer harken ihre Gärten. Sie witzeln herum. Nein, Señores, ich kann ihnen nicht beim Umgraben helfen, ich habe zwei dicke Eier mit mir herumzutragen. Frauen scheuern ihre Wäsche an einem Rinnsal am Straßenrand. Und überall Bauarbeiten an der Straße, nach und und nach wird sie asphaltiert. Viele winken mir zu, grüßen mich, fragen nach meinem Weg – selbst aus weitester Entfernung. Katen stehen verlassen auf unbestelltem Boden. Wolken verdunkeln die Landschaft. Schwere Lkw fahren Erde in den Westen. An Hausfassaden ist Wahlkampfwerbung in Regenbogenfarben gemalt. Beim Passieren der Dörfer kommen kläffende Hunde auf mich zu – ich weiche auf die Fahrbahnmitte aus.

Das kleine Dorf liegt bereits im Nebel, als ich nachmittags ankomme. Sprühregen. Einige Jugendliche spielen Volleyball. Zwei von ihnen tragen ein Ramones- und Kreator-Shirt. Ich muss schmunzeln. Ein junger Mann sieht mich schon von weitem: Er verschafft mir eine Bleibe. Die Lagune selbst ist aufgrund des dichten nassen Nebels nicht zu sehen.

Regen prasselt aufs Wellblech. Die Fenster sind schwarz. Holzpfeiler werfen Schatten auf die orange-getünchte Wand. In der Ecke des Wohnzimmers regnet es rein. Meine Hände sind kalt, bewegen sich wie Invaliden. Um den zischenden Ofen hat sich die Familie gescharrt. Auf der Couch sitzen drei Generationen Frauen: Sie tragen Absatzschuhe, knielange helle Strümpfe, Röcke, Wollpullover und mit floralen Mustern bestickte Gewänder, die sie um die Schultern gewickelt haben. Ihren Filzhüte sind mit Pfaufedern bestückt. Sie tragen lange Halsketten und glitzernde Ohrringe. Der Kessel beginnt zu dampfen, dann zu zittern. Ich kann mein Atem sehen. Eine junge Frau schaut immer wieder zu mir. Der junge Mann, der mich eingeladen hat, hat Weißbrot mitgebracht. Sie brechen das Brot, in der anderen Hand halten sie eine Tütencreme, aus der sie ab und dann saugen. Manuel, der Hausbesitzer sitzt vor seinem dampfenden Reisteller mit Spiegelei. Die Kleinste zündet Streichhölzer an. Und pustet sie wieder aus. Ich bekomme Broccolisuppe. Anschließend Reis, ein kleines Stück frittiertes Huhn und Tomaten-Gurken-Salat. Nach mir isst die Familie nochmals. Die Großmutter zerrt angestrengt mit beiden Händen an einem Schweinegelenk. Die Knorpel knirschen. Den Rest bekommt der Hund auf den Boden geworfen.

Als ich das schreibe, folgen Kinderaugen der schwarzen wachsenden Buchstabenschlange. Ich zeige Manuel meine Reisefotos und lass später die Jüngsten mein Computer ausprobieren. Wie Kinder so sind, sie begreifen schnell. Ich erinnere mich, wie mir damals das Tippen auf einer elektrischen Schreibmaschine Freude bereitete: Ich mochte die Geräusche so sehr. Nach ihnen will auch Manuel sich versuchen. Er tippt seine Visitenkarte, die ein Freund gestaltet hat, ab. Er macht viele Rechtschreibfehler. Nebenbei läuft der Fernseher.

Aber er malt schöne Bildchen, 5 $ das Stück.

 

14 km

Das Wasser ist kalt. Gletscherseen in Norwegen. Zum Frühstück bekomme ich heißen Kaffee, Rühreier und zwei Brötchen mit Margarine. Die Frau, die mich gestern so oft angeschaut hat, hat Folklore eingelegt. Ich bitte sie, mir den Namen des Sängers aufzuschreiben. Sie sagt, dass sie nicht schreiben kann.

Danach besuche ich die grün schimmernde Laguna Quilotoa. Die Leute haben nicht zu viel versprochen: Es ist die bisher Schönste. Für wenigen Wimpernschläge kann man die beiden Gipfel des Illiniza und sogar die Spitze des Cotopaxi bestaunen. Dann verschwinden sie hinter sich auftürmenden Wolken. Ich glaube noch nie solange, ohne Atem zu holen, gestanden zu haben.

14 Kilometer nördlich befindet sich das Dorf Chugchilán. Es liegt 1200 Höhenmeter tiefer. Die Schenkel der einstigen Prinzessin ähneln ohnehin schon behaartem Granit, was also sind schon vier Stunden Wanderung! Ich trage sogar ‘ne Kuh huckepack! Leider wird die Wanderung zu einer Schinderei2: Am Ortsausgang von Quilotoa steht ein verwittertes Schild. Der Weg nach Chugchilán scheint nicht schwierig, auch wenn vor dem Schwierigkeitsgrad, Nebel und Wetterumschwüngen gewarnt wird. Zunächst geht es am Kraterrand der Lagune bergauf. Die Höhe macht mir aber inzwischen weniger zu schaffen. Auf dem Weg treffe ich eine Ecuadorianerin. Bei der ersten Gabelung gehe ich nach links. Die Frau ruft mir hinterher: Nach rechts! Ich ahne böses. Der Boden wird zu Kies, dann zu tiefem Sand, der Nebel zu Milch. Ich bin unsicher, verlasse den Kraterrand. Es geht steil nach unten. Der Weg gabelt sich abermals. In der Ferne schlängeln sich steigende und fallende Pfade in den Norden. Und wieder eine Verzweigung. Ich schlittere. Hoffentlich ist dieser Weg richtig! Scheiße! Der Steig gabelt sich wieder. Ich stehe inmitten von fußbreiten Trampelpfaden, die sich um Gärten und einfache Hütten ranken. In der Ferne Hundegebell. Scheiße! Ich gehe dennoch weiter, nur langsamer. In Sichtweite eines Hauses rufe ich um Hilfe: Señor! Wind. Señor! Der Hund bellt wie wild, er stellt eine Vorderpfote nach vorn. Señor! Blöken. Herzschlagen. Plötzlich prescht der Köter den Hang hinab. Er rast auf mich zu. Verfluchte Scheiße! Mama! Gott – ich trete auch wieder in die Kirche ein! Innerlich verwandele ich mich in ein Denkmal. Einen Satz vor mir bleibt er stehen. Dann nähert er sich mit wütendem Bellen. Ich kehre um. Langsam. Schau dabei aber über meine Schulter. Er lässt nicht ab. Ich habe nichts in der Hand. Ich schaue ihm in die Augen. Er wendet sein Blick ab, bellt aber weiter.

Innerlich habe ich bereits aufgegeben. Ich fürchte mich zu verlaufen. Ich brülle in den Himmel, verwünsche den Köter! Nirgendwo ein verficktes Scheiß-Schild! Der Nebel lässt inzwischen nur noch eine Sichtweite von wenigen Schritten zu. Plötzlich! Ich finde meine Spuren wieder! Der Sand gibt mir den Rest. Ich sinke bis zu den Waden ein. Ich fluche. Reiße wutschnaubend Grasbüschel aus. Wut – blinde – raubt mir die letzte Konzentration! Ich krabble auf allen Vieren, rutsche immer wieder ab. Schweiß tropft auf meine Hände. Jeder Meter ist ein Kampf. Mein Herz scheint zu zerspringen. Ich lass mich ständig fallen, muss pausieren.Völlig erschöpft komme ich am Kraterrand, auf 3.900 Metern Höhe wieder an. Dort machen gerade zwei Belgier mit Führer Pause. Sie kommen von da, wo ich hin will. Ihre Weg-Beschreibungen machen mich nur aggressiver. Ich hab keine Motivation mehr, will zurück ins Dorf! Zufällig kommt eine junge Ecuadorianerin vorbei, die nach Guayama will. Meine Richtung! Ich hadere. Die Belgier rufen mir Mut zu.

Schließlich folge ich ihr. Also wieder zurück. An der entscheidenden Gabelung hätte ich nach rechts gemusst. Ich denke an den Hurenbock, der jenes Schild hergestellt hat: Ich zwicke ihn gerade mit glühenden Zangen in die Brustwarzen! Nichts! Kein Schild! Keine Markierung! Nichts was darauf hinweisen könnte, dass es da lang geht! Man hätte auf dieses Schild ebenso schreiben können, dass man der Sonne oder dem Blöken furzender Schafe folgen soll! Die junge Frau ist schnell, zu schnell für mich. Ich rutsche auf Scheiße aus, hechele hinterher. Wir kreuzen eine breite unbefestigte Straße, zwängen uns durch schmale hüfthohe Gruben, Gestrüpp, springen über Stock und Stein. Nach ungefähr einer Stunde sind wir in Guayama. Dort mache ich Rast. Ich schäle meine überreife Mango, esse Bananen, Kräcker. Aus einer Schule dringt Gesang. Die Kinder zeigen von weitem mit Fingern auf mich. Einige winken, andere lachen. Einem kleinen Bengel biete ich meine Kräcker an. Im Dorf heißt es: Geradeaus, am Ende links, dann musst du einen Fluss überqueren.

Diesem Hinweis folge ich. Irgendwann passiere ich eine unfertige halbverfallene Holzhütte. Rechts von der Straße muss Wasser eine Grube ausgespült haben. Eine entwurzelte Tanne liegt darin. Nach hunderten von Metern – die Sonne scheint fahl hinter einem grauen Schleier – geht der Weg in eine Wiese mit Traktorspuren über. Es geht steil bergauf. Lämmer weichen mir panisch aus. Scheiße! Schon wieder eine Kreuzung und kein Hinweis welcher Weg wohin führt. Aus Schornsteinen steigt Rauch. Von weitem werde ich gerufen. Ein kleiner völlig verschmutzter Junge mit kaputten Zähnen kommt angelaufen. Wo ich hin will? Nach Chugchilán! Was? Falsch? Warum? Wieso? Junge, ich bin innerlich schon ein halber Sadist, erzähl kein Scheiß! Wo? Da ist doch keine Abzweigung! Wo denn? Der Junge geht vor. Schnell, viel zu schnell für mich. Müde? Und ob, Kleiner! Schon wieder muss ich hunderte von Metern zurück. Ich bin frustriert und fülle gerade die Wunden des Schild-Verbrechers mit Quecksilber, stopfe ihm mit frittierten Hähnchenkeulen das Maul. Die Abzweigung ist also die Grube in der die entwurzelte Tanne liegt. Er steigt auf eine Kuppe, zeigt mir den Weg. Eine Stunde noch? Es wird inzwischen spürbar kühler, das Licht schwächer. Der Blick aufs Tal muss atemberaubend sein – mein Frust jedoch trübt die Sinne. Ich gebe dem Kleinen einen Doller. Er bedankt sich, wir reichen uns die Hände. Ich schnalle mein Rucksack wieder um. Bitte? Ich verstehe nicht, Amigo? Mit der linken Hand formt er einen Teller, mit der Rechten führt er die gewölbte Hand immer wieder an den Mund. Hunger? Ich fühle Scham. Ich teile meine restlichen Kräcker und Bananen mit ihm, streichle ihm den Kopf.

Nun geht es steil bergab. Das Rauschen des Flusses wird lauter. Danach bergauf. Ich suche Halt an Wurzeln, Stämmen, Büschen. Oben angekommen schlage ich wieder den falschen Weg ein: Hundegebell. Ich drehe um. Halbnackte verrotzte Kinder schauen mich mit offenen Mündern an. Ihre Mutter schlägt Zuckerrohr. Fette Säue suhlen sich auf der Straße. Wolken wälzen sich über dem Hochplateau.

Nach über 5 Stunden erreiche ich völlig erschöpft ein Gästehaus. Gesicht und Nacken sind verbrannt. Die Lippen gerissen. Ich spüre keinen Hunger, zittere am ganzen Leib. Ich dusche heiß. Meine Hände sind so unterkühlt, dass sie zu brennen beginnen.



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