Der moderne Mensch als Eindringling
Shipman beleuchtet die Entwicklung zunächst aus eher biologischer Sicht. Sie schaut auf das Ökosystem der Eiszeit in Europa, auf die endlosen eurasischen Kaltsteppen und Tundren mit ihren speziellen Pflanzen- und Tiergemeinschaften. Riesige Herden großer Säugetiere vom Ren oder Bison bis zum Mammut durchzogen die eiszeitlichen Kaltsteppen. Entsprechend gab es auch ein Vielzahl großer Beutegreifer, Prädatoren, am Ende der Nahrungskette wie Höhlenlöwen, Säbelzahntiger, Leoparden, Wölfe oder Höhlenhyänen. Und es gab einen weiteren Prädator, den Neandertaler. Dieser behauptete sich über viele Klimaschwankungen und mehr als zweihunderttausend Jahre hinweg sehr erfolgreich. Der Neandertaler war - anders als lange Zeit kolportiert - kein tumber, grobschlächtiger, primitiver Frühmensch. Wie wir heute wissen hatte er Sprache, Kultur, medizinische Kenntnisse und ein teils größeres Gehirnvolumen als der moderne Mensch. Der Neandertaler ernährte sich schwerpunktmäßig von Fleisch, das er mit seinen schweren Speeren im Nahkampf erlegte oder anderen Raubtieren abjagte. In dieses recht stabile Ökosystem drangen nun unsere Vorfahren ein. Sie waren Fremde, Eindringlinge, wie Biologen heute sagen, eine invasive Spezies.
Unsere Vorfahren veränderten schon in der Altsteinzeit das Ökosystem
Invasive Arten, gerade wenn es sich um Prädatoren handelt, können ein Ökosystem nachhaltig verändern. Shipman verweist hier auf die Erfahrungen im US-Nationalpark Yellowstone. Als man dort die zuvor ausgerotteten Wölfe wieder leben und jagen ließ, verdrängten diese zunächst den ihnen am nächsten stehenden Konkurrenten, den Kojoten. Die Folgen waren aber noch viel weitreichender. Da nun die Wapiti-Hirsche starker bejagt wurden, wuchsen viele Pflanzen besser, es entstanden einst untergegangene Wälder neu. Das hatte u.a. die Wiederansiedlung des Bibers zurfolge. Soweit nur als beispielhafter Einblick. Shipman führt aus, dass eine invasive Art am stärksten ihnen nahe stehende Arten bedrängt. So bedrängte wahrscheinlich auch der frühe moderne Mensch den Neandertaler. Die erfahrene Archäologin verweist darauf, das es allerdings kaum Hinweise gibt, dass unsere Vorfahren etwa direkt Neandertaler verfolgt und getötet hätten. Im Gegenteil, haben sie sich sogar zuweilen vermischt.
Mensch und Hund - ein unschlagbares Team seit der Steinzeit
Nichtsdestotrotz, der moderne Mensch ist nach ihrer Auffassung entscheidend dafür verantwortlich, dass der Neandertaler recht bald nach seiner Ankunft in Europa ausstarb. Hierfür sieht Shipman im wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen die bessere Anpassungsfähigkeit und kognitive Überlegenheit unserer Vorfahren, die über modernere Waffen, insbesondere Distanzwaffen wie schlanke Wurfspeere und später sogar Speerschleudern, oder weitere Technologien wie etwa die Nadel aus Elfenbein mit der man aus den Fellen bessere Kleidung schneidern konnte. Der Durchbruch gelang unseren Vorfahren jedoch erst mit Einführung einer weiteren Innovation der Menschheitsgeschichte: Die erste Domestikation einer anderen Spezies, des Wolfes. Durch die Zusammenarbeit zweier Spitzenprädatoren, des Wolfs resp. Hundes und des Menschen, waren die anderen auf der Verliererstraße. Shipman nennt dabei die ersten nicht mehr Wolfe und noch nicht ganz Hunde vor mehr als 30.000 Jahren "Wolf-Dogs". Und tatsächlich sehen wir in der Phase nach 40.000 Jahren vor unserer Zeit ein großflächiges Aussterben von anderen Spitzenprädatoren wie Höhlenlöwen, Höhlenhyänen und eben auch Neandertaler. Primär klimatische Veränderungen als Ursache zu sehen, kann nicht erklären, warum die Fauna mit eben diesen Beutegreifern bereits etliche Klimaschwankungen über zig tausende Jahre hinweg erfolgreich gemeistert hatte.
Altsteinzeitliches Lager von Mammut-Knochen
Foto: Piotr Wojtal
Von den Augen ablesen
Als Brücke der Annäherung sieht Shipman die analogen, kollektiven Jagdtechniken von Mensch und Wolf und hier insbesondere die Funktion der Skleren, der weißen Fläche um die Iris der Augen, die es Mensch wie Wolf ermöglichen, die Absichten des anderen selbst aus der Ferne im wahrsten Sinne des Wortes von den Augen abzulesen. Der Autor dieser Rezension, Christoph Jung hat 2012 zusammen mit der Medizinerin Daniela Pörtl genau hier anknüpfend das Modell der "Aktiven sozialen Domestikation" vorgestellt, das die psychischen und neurologischen Prozesse dieser Annäherung und der besonderen Beziehung zwischen Mensch und Hund erklärt. In dem zeitnah erscheinenden Buch "Tierisch beste Freunde: Mensch und Hund - von Streicheln, Stress und Oxytocin" werden die Gesetzmäßigkeiten dieser Beziehung umfassend erläutert. Es knüpft dabei exakt an Shipmans Ausführungen an.
Das Buch von Pat Shipman ist ein spannendes, äußerst lesenswertes, innovatives Buch über die Geschichte der Menschheit und - was eben auch eine neue Sicht ist - der zugleich gemeinsamen Geschichte von Mensch und Hund seit der Altsteinzeit. Mit Shipman schließen wir mit der Frage: Ob der moderne Mensch, der sich Homo mit dem Zusatz "sapiens" schmeichelt, tatsächlich in der Lage sein wird auch nur annähernd so lange zu überleben, wie es der Neandertaler bis vor knapp 40.000 Jahren in Europa erfolgreich schaffte, wird sich noch erweisen müssen. Angesichts seines heute weltweit und massenhaft gezeigten Verhaltens sind Zweifel hieran durchaus begründbar.
Eine Rezension von Christoph Jung