Bevor Ihr nun runterscrollen und den Artikel überfliegen wollt, rate ich Euch, Euch erstmal die Eröffnungssequenz von Tarsem Singhs THE FALL hier unten anzuschauen. Die Zeitlupenaufnahmen mögen diejenigen, die den Film bisher nicht gesehen haben, velleicht etwas irritieren, versetzen aber sicherlich jeden in die richtige Stimmung, vor allem mit Beethovens 7. Sinonie im Hintergrund und später als Ohrwurm:
So fängt er also an, Tarsems – so abgedroschen ich die Bezeichnung auch finden mag – Meisterwerk. Die Eröffnungsszene zeigt, wie wohl erst gegen Mitte oder Ende des Films klar wird, die Dreharbeiten zu einem Film in den 1920er Jahren, in dem Roy Walker (Lee Pace) als Stuntman arbeitet und dabei verletzt wird. Mal kurz zusammengefasst.
So richtig beginnt der Film dann in einem Hospital in Los Angeles, Anfang der 20er Jahre. Das kleine Mädchen Alexandria (Catinca Untaru), die wegen ihres gebrochenen Arms im Krankenhaus bleiben muss, trifft auf Roy Walker, der seit seiner Verletzung bettlägerig ist. Roy fängt an der kleinen Alexandria eine Geschichte zu erzählen, die er bei jedem ihrer Besuche fortsetzt, während diese ihm dafür Morphiumtabletten besorgen soll. Denn (formulieren wir‘s mal kitschig) dem armen Roy wurden nicht nur die Beine verletzt, nein auch sein Herz ist gebrochen. Dabei ist der Film ganz und gar nicht kitschig. Neben ziemlich humorvollen Einlagen spielt er vor allem mit der Phantasie eines Kindes und erzählt vom Zauber des Geschichtenerzählens.
Roy erzählt dem Mädchen „eine phantastische Geschichte über fünf mythische Helden zu erzählen, die gemeinsam einen Rachefeldzug gegen den korrupten Gouverneur Odious planen. Je weiter er die Geschichte erzählt, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität.“
Und hier fängt das wirklich spannende am Film an, dieses Verwischen von Realität und Fiktion. Die erzählte Geschichte wird in farbenprächtigen und monumentalen Bildern dargestellt, die ebenso gut Phantasie der kleinen Alexandria sein könnten, als auch eine geschaffene Welt von Roy. Die Figuren, die darin spielen, sind aber in jedem Fall Figuren, die auch im Umfeld der beiden vorkommen. Während man anfangs denkt, es handle sich bloß um eine Geschichte, die Roy zu seinem Zwecke erzählt, wird zunehmend klarer, dass er auch aus therapeutischen Gründen erzählt, nämlich um seine Wut gegenüber Evelyn und Sinclair auszusprechen. Evelyn, seine ehemalige Freundin oder Verlobte, zischte nämlich mit dem wohlhabenden Sinclair ab, der in der Phantasiegeschichte als böser Odious dargestellt wird. Am Ende, wenn Roy tiefer in seine Depression verfällt, will er alle Helden umbringen lassen, doch Alexandria greift in die Geschichte ein und bittet ihn um ein anderes Ende.
Die Darstellung der phantastischen Geschichte ist wirklich gewaltig! Wenn ich behaupte, dass es auch ums Geschichtenerzählen geht, dann eben deshalb, weil der Film zeigt, wie einige Worte des Erzählers in der Phantasie derartige Bilder entstehen lässt. „Schließ Deine Augen. Was siehst Du? Gar nichts? Reib sie. Siehst Du jetzt die Sterne?“, sagt Roy zu Beginn seiner Geschichte zu Alexandria. Aus dem Nichts eine neue Welt erschaffen, das ist wahrlich Magie.
Neben der Handlung haben machen zwei Faktoren den Wert der Geschichte aus. Der eine Faktor sind die traumhaften Landschaften. In einem Interview erzählt Tarsem, wie er die Idee für den Film, seinem Traumprojekt, schon über 20 Jahre zuvor hatte und auf dem Weg zur Verwirklichung zehn Jahre lang nach geeigneten Drehorten suchte. So wurde der Film letztendlich in über 24 verschiedenen Ländern gedreht, Indien, Südafrika, Tschechien, Italien, Türkei… Der andere beitragende Faktor wären wohl die Kostüme. Weil ich dem einen Post widmen will, geh ich hier mal nicht weiter darauf ein.
Weil nach THE ARTIST und HUGO CABART wohl einige einen 20er Jahre Overkill erleidet haben, hier nochmal eine Erklärung von Tarsem, warum er seine Geschichte in eben diese Dekade verlegte: “But I needed to find someone who would not have seen cinema because I had a very particular style of acting and theatrics in mind, and I can’t think of a place on the globe today, unless you are looking for a wolf-child. But I couldn’t think of a place today where you might find a child who hadn’t been exposed to cinema, not an Eskimo, no one.
I couldn’t create a situation where one character is familiar with cinema and the other is not, so that their imagination would be tangent, pure, not tainted at all by any genre yet. So it ended up being a period piece, and the latest I could move it was toward the early ’20s.”
Der Charakter der Alexandria ist übrigens an die kleine Ponette angelehnt.
Unten zwei Standbilder der Stop-Motion-Sequenz im Film von den Brüdern Lauenstein: