The 25th Ward: The Silver Case auf PC im Review: Bizarr-Surrealer Noir-Mindfuck

The 25th Ward: The Silver Case auf PC im Review: Bizarr-Surrealer Noir-Mindfuck

Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, dass das Enfant terrible der japanischen Videospielindustrie, Goichi Suda aka Suda51, mit einem Titel merkliche Aufmerksamkeit generieren konnte. War der kreative Ex-Bestatter auf der letzten Konsolengeneration noch mit zahlreichen Titeln vertreten (u.a. Shadows of the Damned, Lollipop Chainsaw, Killer is Dead, Sine Mora und den No More Heroes-Titeln für die Wii), ist es auf den derzeit aktuellen Systemen merklich still um ihn geworden. Lediglich mit einem Remaster des 1999er PlayStation-Titels „The Silver Case" und dem, euphemistisch ausgedrückt, unterbewerteten Free to Play-Titel Let It Die von 2016 hat er sich auf die Current Gen vorgewagt. Mit „ The 25th Ward: The Silver Case" erschien nun Mitte März via NIS America das Sequel zu erstgenanntem Titel. „The 25th Ward: The Silver Case" ist strenggenommen ebenfalls ein Remake, nämlich des bislang japanexklusiven, aber auch dort nicht mehr erhältlichen Mobile Games, welches über die Jahre hinweg in mehreren Episoden für die 2005 noch aktive i-mode Plattform erschien. Im Westen feiert der Titel somit eine Premiere und setzt ob seiner Seltsamkeit genau da an, wo The Silver Case aufhörte. Eine bizarre Visual Novel vor minimalistischer Kulisse, inspiriert von Film Noir und Jean-Luc Godard Romanen, oszillierend zwischen Trash und Arthouse, und äußerst sperrig in seiner Handhabung. Wer möchte sowas spielen? Das gilt es in dieser Review herauszufinden.

„People are not made. People are scouted. This is the ideology of the 25th ward..."

Storytechnisch lässt sich The 25th Ward: The Silver Case am ehesten mit dem Roman High Rise von J.G. Ballard (übrigens 2015 mit Tom „Loki" Hiddelston in der Hauptrolle verfilmt) vergleichen, der wohl Pate für das narrative Grundgerüst der Visual Novel stand. Sechs Jahre nach „The Silver Case", ist der Nachfolger inmitten einer Gated Community in einem dystopischen Japan der nahen Zukunft angesiedelt. Weg von institutionalisiert-bürokratischen Strukturen hin zu gemeinschaftsbasierten Formen von Zusammenleben, soll der Hochhauskomplex, der 25. Bezirk, das Fundament bilden für eine utopische, handverlesene Gesellschaft, in der es kein Verbrechen mehr gibt - weder Vermüllung der öffentlichen Plätze, noch Taschendiebstahl und erst recht keine Kapitalverbrechen wie Mord. Natürlich wird die Realität der Utopie nicht ganz gerecht. Eine erhöhte Suizidrate sorgt dafür, dass Ermittlungen gegen die Strippenzieher des Bezirks initiiert werden. Und tatsächlich ist der wahre Zweck hinter der 25. Bezirks eine breitangelegte Verschwörung, die beständig über die Spielzeit hinaus enthüllt wird - oder auch nicht, wenn man nicht voll konzentriert an die Sache herangeht.

In den drei Kapiteln „ Correctness", „ Matchmaker" und „ Placebo " schlüpfen wir in die Rollen jeweils unterschiedlicher Protagonisten. Jedes Kapitel ist in sechs Fälle aufgeteilt - Im ersten Kapitel spielen wir als Ermittlerduo Mokutaro Shiroyabu und der resoluten weiblichen Clint Eastwood-Verschnitt Shinko Kuroyanagi, die im Dienste der Heinous Crime Unit, einer bizarren und verstörenden Mordserie im 25. Bezirk auf den Grund gehen. „Matchmaker" fokussiert sich auf die Verwicklungen eines Beamten des lokalen Schadensregulierungsbüros, Shinkai Tsuki, mit der Unterwelt des 25. Bezirks. Und in „Placebo" schlüpfen wir in die Haut von Tokio, den Protagonisten aus dem Vorgänger „The Silver Case". Die für sich autonomen Geschichten werden durch das Wirken eines ebenso mysteriösen, wie omnipräsenten Namen zusammengehalten: Kamui Uehara.

Der Umstand, dass die Geschichte hier relativ nüchtern und plotarm gezeichnet wird, liegt primär an der Art und Weise, wie sie dem Spieler präsentiert wird. Nämlich so derart alle narrativen Konventionen sprengend und durchgeknallt, dass es dem geneigten Rezensenten schwerfällt, das Ganze angemessen in Worte zu fassen. Das zutiefst japanische Storytelling ist mal wieder durch und durch Suda und erinnert in seiner Weirdness an seine erzählerisch ähnlich abgefuckten Glanzmomente Killer7 und Killer is Dead. Die Twin Peaks-hafte Atmosphäre wird Lynch-Like immer mit unkonventionellen Absurditäten garniert: Zu Beginn etwa haben wir es mit jemandem zu tun, der den Fetisch entwickelt hat, die Haarbündel seiner Mordopfer zu verspeisen. Eine Banalität, die als „weitläufig verbreitete Perversion" abgetan wird. Der lokale Postdienst beschäftigt nunmehr von der Regierung anerkannte Auftragsmörder*Innen, die Abtrünnige „geradebiegen" sollen (im Englischen „adjust"), die auch nur den kleinsten Hauch an der gesellschaftlichen Ordnung des 25. Bezirks zu bemängeln haben. „Geradebiegen" heißt hier ironischerweise nicht etwa ein Rekonditionierungsprogramm, sondern nicht weniger als eine staatlich zugelassene Hinrichtung. Die neuartigen Selbsttötungstrends der Bewohner bringen das Blut zum Kochen und entladen sich in zersprengenden Häuptern. Es fühlt sich alles ein bisschen aus dem Takt geraten an, macht aber im Kontext des dystopischen Settings dennoch auf eine merkwürdige Art und Weise Sinn.

Tatsächlich sollten gerade Suda-Neueinsteiger aber entweder den Vorgänger gespielt haben oder sich wenigstens auf der offiziellen NIS America-Präsenz den Storybackground durchackern. Denn selbst Veteranen, die mit „The Silver Case" vertraut sind, werden teils arge Probleme haben, die Zusammenhänge richtig zu deuten. Das ist eigentlich etwas, dass das Spiel als Zugangspunkt hätte offerieren können oder sollen. Aber Suda war bekanntlich nie jemand, der Zugeständnisse an sein Publikum machte - und gerade bei einer derart kruden Visual Novel ist das ein erwähnenswertes erzählerisches Defizit.

Was The 25th Ward: The Silver Case hingegen meisterlich schafft, ist es, die verschiedenen Kapitel miteinander zu verknüpfen. Die verschiedenen Perspektiven der einzelnen Protagonisten auf die tragenden Eckpfeiler, d.h. die zentralen plotantreibenden Ereignisse, sind interessant gewählt und passen stets zur operierenden Figur. Auch verhalten sich die einzelnen Fälle der jeweiligen Kapitel auf sehr raffinierte Weise analog zueinander. Das heißt demnach, der Schlüssel zum Verständnis liegt in dem chronologischen Schema zugrunde: Kapitel 1 - Fall 1 : Kapitel 2 - Fall 1 : Kapitel 3 - Fall 1 usw. usf.

SPIELMECHANIK ZWISCHEN SPERRIG UND MINIMALISTISCH

War der Vorgänger The Silver Case noch wirklich extrem unhandlich in seiner altbackenen Handhabung, bis zu einem Punkt, wo die Steuerung viele potentielle Interessenten merklich abschrecken dürfte, ist bei The 25th Ward eine deutlich intuitivere Kontrolle über das Geschehen möglich. In dem Fall merkt man die deutlich simpleren Mobile Game-Wurzeln. Tatsächlich lässt sich das Spiel auf dem PC vollständig mit der Maus bedienen, ohne die Tastatur überhaupt berühren zu müssen. Der Fokus liegt also vollständig auf dem Sammeln von Informationen und dem Lösen von Puzzles.

Man bewegt sich durch vorgegebene „kontextual" vorgegebene Richtungen - Auf den Würfeln, ähnlich den 20-seitigen Würfeln in Magic The Gathering, befinden sich die einzelnen Aktionen, um mit der Umgebung zu interagieren. Das kann das „Reden" mit NPCs umfassen, die Nutzung von Items oder das Umschauen. Nichts davon ist wirklich frei ausführbar, sondern geht stets in fixen Bahnen vonstatten. Ab und an gilt es Passwörter einzugeben, oder Befehle auszuführen. Auch das wird in der Regel via Maus realisiert.

Die Puzzles verdienen weitgehend ihren Namen nicht. The 25th Ward ist eine storygetriebene Visual Novel, in der die Puzzles eher selbstzweckhaft integriert wurden. Das heißt im Klartext, in der Regel verlangt das Spiel lediglich eine bestimmte Abfolge von Handlungen. Meist „schaut man sich um" um fortzufahren. Ab und an muss man sich mehrfach mit einem NPC behalten, bis er sich beginnt zu wiederholen. Ab und zu gilt es tatsächlich Puzzles zu „brute forcen", das heißt solange rumzuprobieren, bis man die richtige Lösung hat. Gerade zum Ende gibt es da einige extrem nervige Passagen, durch die man sich regelrecht durchquälen muss. Spielerisch, und das Wort sei hier in Anführungsstriche zu setzen, ist The 25th Ward trotz der Entschlackungskur gegenüber dem Prequel nach wie vor eher ... nun ja... Grütze.

UNIQUER ABSTRAKTER ARTSTYLE, STILSICHERER SCORE

Auch grafisch präsentiert sich der Titel eher sehr zweckmäßig. Die dialogischen Sequenzen werden in einem schwarz-weißen Graphic Novel-Stil wiedergegeben, mit nur leichten zurückhaltenden, farblichen Akzenten. Die Sequenzen, in denen man sich durch die Gänge der Hochhauskomplexe bewegt sind extrem abstrakt dargestellt. Auch die Menüführung bzw. das HUD basiert weitgehend auf dem oben genannten „Aktions"-Würfel und ist anderweitig nicht vorhanden. In dem Fall ist das aber gar nicht tragisch: Der Art Style hat nämlich etwas sehr bewusst Steriles an sich und erinnert an einen noch weiter runtergebrochenen Stil von Killer7. Es passt zur dystopischen Vision einer klinisch reinen Gesellschaft. Alle Bildinhalte sind symbolisch aufgeladen, die komplette visuelle Komponente ein minimalistisches, retrofuturistisch anmutendes Kunstwerk.

Passend dazu erklingt ein facettenreicher Score, der die dezent cyberpunkige Atmosphäre der Visual Novel unterstreicht: Jazzige Sounds wechseln sich situationsabhängig mit wabernden Ambientsounds, industriellen Noiseattacken oder japanischem Punk ab und unterstreichen die Stimmung der jeweiligen Handlungsmomente. Der Soundtrack ist eben so anstrengend und verkopft wie der Titel selbst, experimentell wäre ein treffendes Adjektiv, aber er fügt sich nahtlos in die Gesamt-Experience ein und verleiht dem wahnhaften Konstrukt noch eine zusätzliche Textur.

Störend fällt hingegen ein Relikt aus „The Silver Case"-Zeiten auf: Das umfangreiche Textmaterial wird mit einem archaischen Tippsound runtergerattert, der superpenetrant daherkommt und den Score beinahe übertüncht. Hier muss man ein wenig mit den Soundsettings rumspielen, um da ein akzeptables, nicht trommelfellkrebserzeugendes „Klangerlebnis" zusammenzubasteln.

Die äußeren Qualitäten sind also zugegebenermaßen mehr hässlich, als schön. Und dennoch funktioniert die Aufmachung auf eine merkwürdige Weise im Gesamtkontext: The 25th Ward spielt sozusagen mit der Ästhetik des Hässlichen.

LOKALISIERUNG

The 25th Ward: The Silver Case enthält wirklich viel Text. Darauf muss man sich beim Genuss des Machwerkes einstellen. Und leider gibt es ausschließlich englische Bildschirmtexte und Cutscenes zu bestaunen. Menschen, die des Englischen nicht oder nur unzureichend mächtig sind, bleiben hier also leider außen vor. Spieler*Innen mit Kenntnissen auf Schulenglisch-Niveau können zwar etwas von der Story mitnehmen, werden aber aller Voraussicht nach öfter mal das Wörterbuch bemühen müssen. Das ist zwar schade, aber ist bei einem derartigen Nischen-Titel kaum verwunderlich.

Fazit:

Eine unabdingbare Empfehlung für The 25th Ward: The Silver Case kann ich nicht aussprechen. Dazu ist der Titel aus der Feder von Goichi Suda einfach zu sehr Nische. Ein narrativer und künstlerischer Mindfuck. Spielerischer und grafischer Minimalismus treffen hier auf eine extrem fordernd und kompromisslos erzählte Geschichte. Funktionierten Sudas Last Gen-Titel zumindest als meist solide Standard-Genrekost, fehlt dieses bodenständige Element hier. Wir haben hier ein nihilistisches, alptraumhaft-surrealistisches Erzählexperiment vorliegen. Das ist nicht für jeden was. Tatsächlich vermutlich für die Wenigsten - Liebhaber ungewöhnlicher Videospielkunst, Fans von interessanten Textadventures und Jünger des Branchenpunks Suda51 kommen aber dennoch auf ihre Kosten und erhalten befriedigende Unterhaltung. Und für diesen Mut danke ich NIS America Inc., denn The 25th Ward: The Silver Case ist letztlich mehr als die Summe der einzelnen Teile.

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