Je näher ich dem Bahnsteig kam der noch Tags davor von hunderten Flüchtlingen als Zufluchtsort gedient hat, desto beklemmender war das Gefühl in mir das mich bis zu meinen Erzählungen über den Tag nicht mehr loslassen sollte.
Mit dem Gedanken ein paar Sachspenden vorbeizubringen und mich als Dolmetscherin anzubieten fuhr ich am Montagvormittag mit einem großen Sackerl von Vero Moda in der Hand zum Wiener Hauptbahnhof. Mein Ziel waren die Gleise 11/12, die beim Treppenabgang zu den übriggebliebenen Flüchtlingen führten.
Als ich die letzte Stufe zum Abgang erreichte, konnte ich erst das ganze Geschehen erfassen das auf mich wartete. Obwohl die ersehnten Züge die vor einigen Stunden aus Ungarn abgefahren waren nicht in Wien angekommen sind, waren immer noch viele Flüchtlinge anzutreffen. Niemand wusste was mit diesen Zügen passiert war, allerdings habe ich die Besorgnis aus den Gesichtern der Flüchtlinge als auch aus den Augen der freiwilligen Helfer lesen können. Ich fühlte mich unter dem ganzen Gewusel ziemlich fehl am Platz – immerhin war ich weder eine Flüchtige noch habe ich mich als freiwillige Helferin gemeldet. Die Situation schüchterte mich ein und ich wusste erstmal nicht wo ich anfangen sollte. Bis ich einen jungen Mann alleine auf einer Bank sitzen sah, die gerade noch so für ein kurzes Gespräch bequem war. Sein gesenkter Kopf wurde zur Hälfte von einem dieser Telefone, die man auch aus den Telefonzellen kennt, verdeckt aber seine Körperhaltung war gerade. Fast so als ließe er sich nicht unterkriegen.
Aus kurzen Gesprächen mit freiwilligen Helfern und einigen Flüchtlingen erfuhr ich, dass der Bahnhof Tags zuvor noch steckend voll war. Immer wieder trafen Züge mit unzähligen Flüchtlingen ein, die einfach nur glücklich waren aus Ungarn entkommen zu sein.
Die Tortur begann in Izmir. Adel, einige Menschen aus seiner Familie und auch Unbekannte bildeten eine Gruppe von fünfundfünfzig Menschen die in ein Schlauchboot, das für höchstens dreißig Leute genug Raum bot, zusammengepfercht wurden. Es schien dem jungen Mann damals sehr riskant, aber er hat es einfach auf sich genommen. Er hatte keine andere Wahl. Aufeinandergestapelt wie Legosteine fuhr das Boot geschätzte hundert Kilometer über das Wasser bis um zwei Uhr früh das Unglück passierte. Das kleine Boot hatte ein Leck und der Boden begann sich schnell mit eisigem Salzwasser zu füllen. Alle Menschen um Adel herum, und auch ihn selbst, ergriff Panik. Doch der junge Mann versuchte die anderen Menschen zu besänftigen indem er auf Arabisch und Englisch zu ihnen sprach. Er rufe sofort die Küstenwache, rief er in die chaotische Szenerie. Doch das hielt fünf Menschen nicht davon ab gegen ihren Überlebensinstinkt zu agieren und in das schwarze, tiefe Wasser zu springen. Die Rettung kam in Form von einem Hubschrauber und einigen Booten, die von der Küste von Samos unterwegs waren. Adel versuchte den Polizisten auf dem Festland Auskünfte über die anderen fünf Personen zu geben, die vom Boot gesprungen waren doch nur vier wurden gerettet. Die fünfte Person war ein ungefähr zwölfjähriger Junge, der nicht mehr gefunden werden konnte.Von Tessaloniki begann ein harter Fußmarsch für Adel und seine inzwischen über fünfhundert Leidensgenossen. Der junge Mann mit Knochenkrebs, der immer einen kleinen Rucksack mit Schmerztabletten und anderen wichtigen Dingen bei sich trägt, marschierte geschätzte sechs Kilometer in der prallen Sommersonne mit seiner Gruppe auf Zuggleisen um nach Mazedonien zu kommen. Durch zwei Holzpfosten, die einen Durchgang darstellen sollten, wurden die Flüchtlinge von Polizisten hindurchgezwängt wodurch Adel von seiner Familie getrennt wurde. Die Polizisten waren mit Schlagstöcken, Tränengas und Waffen mit Gummigeschossen ausgerüstet und weil der junge Mann nicht wollte, dass die Polizisten eines der Dinge einsetzt versuchte er auch hier die Leute zu besänftigen, denn zur Warnung schlug die Polizei mit den Schlagstöcken auf ihre Schilder. Anstatt also stehenzubleiben und um Einlass zu bitten sollten sich die Menschen lieber ruhig verhalten und sich auf den Boden setzten damit die Polizisten die Flüchtlinge ohne Stress hindurchlassen konnten.
Adel zeigte mir viele Fotos und Videos die er mit seinem Smartphone auf seinem Weg nach Österreich gemacht hat. Unverfälscht und kommentarlos. Ich hatte keine Worte für die Dinge, die er mir zeigte und schüttelte die ganze Zeit nur mit dem Kopf während ich kurz mit der Zunge schnalzte – ein Laut, der im Mittleren Osten überall dasselbe bedeutet: Unglauben. I know, sagte Adel bloß auf mein Schnalzen.
Auf dem Weg nach Serbien wurde Adel ein weiteres Mal eingepfercht, doch diesmal in einen Zug. Die Menschen waren aneinandergedrängt und standen stundenlang in den engen Gängen, denn Sitzplätze waren längst belegt. Weiter sollte es nach Ungarn gehen aber Adel war fest entschlossen seine Fingerabdrücke nicht der ungarischen Regierung zu schenken. An der Grenze traf er drei seiner Freunde die er auf der Flucht verloren hatte. Auf ihren Bäuchen und in geduckter Haltung schlichen die Freunde durch ein geschätztes ein Kilometer langes Maisfeld über die Grenze, während sie mit dem GPS auf ihren Smartphones eine Tankstelle ansteuerten. Kurzzeitig, erzählte Adel, wurden sie von Irakis mit Messern bedroht und obwohl Adel und seine Freunde um ihr Leben fürchten mussten, schafften sie es zur Tankstelle an der ebenfalls Taxis standen. Eines davon brachte die Männer nach Budapest, doch auch da mussten sie vorsichtig sein, dass die Polizei sie nicht erwischte. Endlich angekommen kauften sich Adel und seine Freunde Tickets nach München, denn viel zu spät haben sie davon erfahren, dass für sie die Zugreise nach Wien gratis war. Während sie auf die Abfahrt warteten wollten die Männer in einem Hotel absteigen wo Leute wegen Platzmangel schon auf den Gängen schliefen. Aber dann fanden sie doch ein Zimmer für vier Personen. Und dann war Adel auch schon in Wien.
„That’s how I came to Vienna“, sagte er und lächelte. Adel hatte an diesem Tag ein Lachen, das auch seine Augen erreichte und mir zeigte, dass es doch auch etwas Schönes in diesem trostlosen Bahnhofabgang gibt. Während der junge Mann mir seine Geschichte erzählte, hatte sich ein älterer Mann zu uns gesetzt, der sich als Adels Onkel herausstellte. Also hat Adel wieder zu seiner Familie, oder zumindest zu einem Teil davon, gefunden. Sein Onkel begrüßte mich mit einem herzlichen Handdruck, indem er meine Hand in seine beiden nahm und freundliche Worte zu mir sprach, die ich trotz meines Persisch-Könnens nur erahnen konnte. Ich fühlte mich plötzlich richtig wohl, denn der alte Mann erinnerte mich an den persischen Teil meiner Familie.
Adels Antwort auf meine Frage, was sein größter Wunsch wäre, war, dass er bloß nach England wolle. Beim Verabschieden sagte ich noch zu Adel: Stay strong!, und gab ihm und seinem Onkel einen Händedruck der mehr bedeuten sollte als ich zu sagen hatte.© Rhea Schlager