Die Komplizenschaft des Westens mit islamistischen Terrorgruppen im Nahen Osten hat sich in Paris auf schreckliche Weise gerächt –
„Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung.“ Die 28 EU-Mitgliedstaaten sagten daraufhin einstimmig Frankreich ihren Beistand zu.
Und auch diese Frage muss gestellt werden: Könnte Frankreich die Anschläge von Paris als eine Art Freifahrtschein missbrauchen, um die eigenen geopolitischen Interessen in Syrien mithilfe einer direkten militärischen Intervention umzusetzen, die nicht allein auf den IS abzielt, sondern auch darauf, die bislang gescheiterten Versuche, die Assad-Regierung zu stürzen, doch noch erfolgreich umzusetzen?
Wer meint, es sei angesichts der schockierenden Bluttat von Paris unlauter in einer Frage zu unterstellen, für Frankreich und seine westlichen Partner könnte die Umsetzung eigener geopolitischen Interessen schwerer wiegen als ein konsequenter Kampf gegen den islamistischen Terrorismus, dem sei das Massaker an der Redaktion von Charlie Hebdo im Januar 2015 in Erinnerung gerufen.
Als Drahtzieher dieser Bluttat wurde der jemenitische al-Qaida-Ableger ausgemacht, der unter dem Label AQAP (Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel) agiert und als größte und gefährlichste Filiale des Terrornetzwerkes gilt.
Seit acht Monaten führt die vom Westen unterstützte und von Saudi-Arabien angeführte Allianz einen Krieg gegen das arabische Land. Ein Krieg, der nach UN-Angaben zehn Prozent der rund 26 Millionen Jemeniten zu Flüchtlingen und achtzig Prozent der Einwohner zu Hungerleidern gemacht hat. Ein Krieg, in dem die AQAP-Dschihadisten de facto als Verbündete der Allianz agieren.
Im Windschatten ihrer militärischen Offensive konnte das Terrornetzwerk weite Teile des Jemen unter seine Kontrolle bringen, denn die Dschihadisten und die saudische Kriegsallianz haben einen stillschweigenden Pakt geschlossen und behelligen einander nicht.
„Warum sollten die Saudis sie (gemeint ist AQAP, Anm. d. Red.) angreifen, wenn sie in diesem Krieg doch tatsächlich auf derselben Seite kämpfen“, zitiert die Washington Post einen jemenitischen Geheimdienstler. (1)
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Die saudische Regierung und ihre westlichen Partner betrachten die Huthi-Rebellen als Verbündeten Irans. Um den Einfluss des persischen Landes zu untergraben, nehmen sie dafür – ähnlich wie in Syrien – die Zerstörung des Jemen sowie die mit ihrem Handeln verbundene Stärkung al-Qaidas und des „Islamischen Staates“ in Kauf.
Bei den Bombardements der saudischen Luftwaffe und verbündeter Kräfte wurde ein Großteil der zivilen Infrastruktur in den von den Huthis (ehemals) kontrollierten Landesteilen zerstört – und zwar gezielt, wie Amnesty International (AI) wiederholt feststellte. Die Menschenrechtsorganisation wirft der Kriegsallianz „Kriegsverbrechen“ und Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht vor.
Luftangriffe richteten sich unter anderem gegen Flüchtlingslager, Schulen und Moscheen, international geächtete Streubomben werden – wie mehrfach von AI und Human Rights Watch dokumentiert – gegen Wohngebiete eingesetzt.
„Die Einstufung großer, dicht bewohnter Gebiete als militärische Ziele und der wiederholte absichtliche Beschuss von zivilen Wohnstätten sind schlagende Beispiele dafür, wie die Koalitionskräfte darauf verzichten, notwendige Vorsichtsmaßnahmen zur Vermeidung ziviler Verluste zu ergreifen, wie sie das Humanitäre Völkerrecht vorschreibt“, kritisierte Amnesty in einer Stellungnahme vom Oktober. (3)
Angriffe auf Krankenhäuser sind beinahe an der Tagesordnung. So zerbombte die saudische Allianz Ende Oktober in der Kleinstadt Haydan ein von Ärzte ohne Grenzen (MSF) betriebenes Krankenhaus, das für zweihunderttausend Menschen in der Region die einzige medizinische Versorgung bot. Stundenlang wurde die Einrichtung bombardiert, deren GPS-Koordinaten laut MSF der saudischen Allianz mehrfach mitgeteilt worden waren.
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Das Internationale Rote Kreuz (IRK) sprach Mitte November von fast einhundert erfolgten Angriffen auf Krankenhäuser seit Beginn der saudischen Intervention. „Gesundheitseinrichtungen werden gezielt angegriffen, medizinische Bedarfsmittel werden blockiert“, so das IRK. (6)
IRK-Präsident Peter Maurer beschrieb die Lage nach seiner Rückkehr aus dem arabischen Land folgendermaßen: „Im Jemen sieht es nach fünf Monaten Bürgerkrieg schlimmer aus als in Syrien nach fünf Jahren“. (7)
Die Teilnehmer der Kriegsallianz müssen nicht fürchten, für ihre Kriegsverbrechen oder für ihre – mindestens indirekte – Komplizenschaft mit den Hintermännern der Charlie Hebdo-Mörder zur Rechenschaft gezogen zu werden. Denn sie führen im Jemen einen Krieg, der ohne westliche Unterstützung und Waffenlieferungen gar nicht möglich wäre.
So sind die USA, die mit dem Beginn der saudischen Intervention ihre Drohnen-Angriffe auf AQAP einstellten, mit Geheimdienstinformationen behilflich, sorgen für Munitionsnachschub, betanken Bomber der Kriegsallianz in der Luft und beteiligen sich mit eigenen Schiffen an der Seeblockade.
Die Zielauswahl der Luftangriffe liegt maßgeblich in den Händen des US-Militärs. Zynisch rechtfertigt das Pentagon diese Unterstützung mit der Begründung, sie würden das von den Raketen und Bomben verursachte Schadensgebiet „berechnen“, um „zivile Opfer zu vermeiden“. (8)
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Der an die westlichen Regierungen gerichtete Aufruf Amnesty Internationals, ihre Rüstungslieferungen an die saudisch-geführte Allianz angesichts der von ihr verübten Kriegsverbrechen einzustellen, stößt auf taube Ohren – auch in Berlin.
Für das erste Halbjahr 2015 genehmigte die Bundesregierung die Ausfuhr von Rüstungsgütern in Höhe von 178 Millionen Euro nach Saudi-Arabien. An die Vereinigten Arabischen Emirate, das die meisten Soldaten der Allianz stellt, lieferte Berlin in den ersten sechs Monaten dieses Jahres Kriegsgerät im Umfang von 46 Millionen Euro, darunter Panzerhaubitzen, Panzertransporter und dreitausend Maschinenpistolen.
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Noch umfangreicher fallen die Waffenlieferungen Frankreichs aus. Im April brachte Paris einen Deal über die Lieferung französischer Kampfjets an Katar im Wert von über sechs Milliarden Euro unter Dach und Fach. Im Juni folgte ein Investitionsabkommen mit Saudi-Arabien in Höhe von elf Milliarden Euro.
Am Montag gab das Pentagon ein weiteres milliardenschweres Rüstungsgeschäft mit Saudi-Arabien bekannt. Die Golfmonarchie werde für ihre Luftwaffe mehr als neunzehntausend Bomben im Wert von 1,2 Milliarden Euro kaufen. Offiziell dient das Geschäft dem Kampf gegen den Terror – welch Hohn angesichts der Tatsache, dass Riad im Jemen Seite an Seite mit al-Qaida kämpft.
Die US-Bomben, die dort eingesetzt werden, fallen auf den einzigen wirklichen Widersacher al-Qaidas, die Huthi-Rebellen. Und auf Zivilisten. Als die saudische Koalition mit einem Luftangriff Ende September 131 Anwesende einer Hochzeitsfeier tötete – ebenso viele Menschen starben bei den Attacken am Freitag in Paris – war das keinem westlichen Staatschef eine Verurteilung, gar einen Kommentar wert, und nirgendwo in Europa wurden deshalb die Flaggen auf Halbmast gesetzt.
Der Westen unterstützt im Jemen keinen Krieg gegen den Terror, sondern einen Terrorkrieg – der den Drahtziehern des Massakers an der Charlie Hebdo-Redaktion zugutekommt.
Das gleiche lässt sich über die Situation in Syrien sagen, wo die Anschläge von Paris ausgeheckt worden sein sollen. „Den blanken Terror, der Paris jetzt zum zweiten Mal in diesem Jahr getroffen hat, haben die Staaten der EU und Nordamerikas in Syrien jahrelang faktisch toleriert“, stellte German Foreign Policy am Montag in einem Artikel fest und benennt Beispiele: „Erste Suizid-Anschläge mit Dutzenden Toten wurden in dem Land um die Jahreswende 2011/2012 verübt. So sprengte sich etwa ein Attentäter am 6. Januar 2012 im Damaszener Stadtviertel Al Midan neben mehreren Polizeibussen in die Luft, als dort gerade Proteste gegen die Regierung Assad stattfanden. Der Anschlag zielte darauf ab, die Proteste weiter zu radikalisieren; 26 Menschen – mehrheitlich unbeteiligte Zivilisten – kamen dabei ums Leben.“
Der syrische al-Qaida-Ableger, die al-Nusra-Front, reklamierte die Täterschaft für sich, wie auch für einen Selbstmordanschlag vier Monate später in Damaskus, „bei dem 55 Menschen getötet und rund 400 verletzt wurden, die meisten von ihnen Zivilpersonen“. „Bereits damals waren in Syrien mehr Menschen bei Suizid-Anschlägen von Jihadisten zu Tode gekommen als dieses Jahr in Frankreich, und die Zahl der Opfer nahm rasch weiter zu“, so German Foreign Policy. „Eine Verurteilung der Anschläge, die auch nur annähernd mit den Reaktionen auf die jüngsten Pariser Mordtaten vergleichbar gewesen wäre, blieb im Westen jedoch aus.“ (10)
Im Gegenteil: Frankreichs Außenminister Laurent Fabius lobte Anfang 2013 die syrischen al-Qaida-Terroristen mit den Worten, diese würden „auf dem Boden einen guten Job“ machen. (11)
Frankreich war eine der treibenden Kräfte hinter der Intervention in Libyen, die zur Zerschlagung des säkularen Staates und zur Herrschaft al-Qaidas über weite Teile des nordafrikanischen Landes führte. Das gleiche gilt für Syrien. Frankreich ist die europäische Macht, die sich am vehementesten dagegen stemmt, die Assad-Regierung in eine friedliche Lösung des Konflikts einzubinden.
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„Das Regime zu zerstören, bedeutet den Staat zu zerstören“, so Landis. (12) Frankreich ist eine der führenden Mächte, die den Sturz Assads anstreben, und damit einem chaotischen Machtvakuum den Weg ebnen würden, von dem vor allem die Dschihadisten profitieren.
Unter Bruch des EU-Waffenembargos lieferte Paris bereits 2012 Waffen an die Aufständischen, wie Präsident Hollande selbst eingestand. (13) Im Oktober 2012 stellte die New York Times fest, dass ein Großteil der von Katar und Saudi-Arabien an syrische „Rebellen“ gelieferten Waffen bei den islamistischen Dschihadisten landete (14) – die französischen Waffenlieferungen stellen da keine Ausnahme dar, auch wenn Hollande beteuert, seine Regierung hätte mit Waffenlieferungen begonnen, „als wir sicher waren, dass sie in die richtigen Hände gelangen würden“.
Die jetzt nach dem Terrorakt von Paris vielbeschworenen „westlichen Werte“ spielten offenbar keine Rolle, solange sich das mit westlicher Waffenhilfe vollzogene Morden und Metzeln auf syrisches Territorium beschränkte.
Der „Islamische Staat“ – ein selbstgeschaffenes Monster
Alle Terrorexperten sind sich darin einig, dass die Anschläge von Paris eine Konsequenz des Aufstiegs der Dschihadisten in Syrien sind. Und bei diesem handelt es sich nicht um einen Betriebsunfall, wie ein Bericht des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency (DIA) vom August 2012 belegt, der im Mai dieses Jahres an die Öffentlichkeit gelangte. Demnach wusste die US-Administration schon damals, dass al-Qaida innerhalb des Aufstandes in Syrien die führende Rolle ausübt und von „westlichen Ländern, den Golfstaaten und der Türkei“ dabei unterstützt wird, in Ost-Syrien ein „salafistisches Fürstentum“ zu etablieren. Denn das sei „genau das“, was die Fördermächte der Terrorgruppe wollten, um „das syrische Regime“ von Iran und dem Irak „zu isolieren“. (20)
Gegen die Bemühungen der US-Regierung, den brisanten Bericht herunterzuspielen, verwehrte sich der ehemalige Chef des Geheimdienstes, Michael T. Flynn, der Ende Juli gegenüber al-Jazeera unterstrich, dass es sich bei dem Siegeszug der Dschihadisten nicht um einen durch die Blauäugigkeit Washingtons verschuldeten Nebeneffekt handelt. Flynn zufolge sei es eine „vorsätzliche Entscheidung“ gewesen, die islamistischen Terrorgruppen in Syrien zu fördern. (21)
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Dabei hätte es nicht des enthüllenden Berichts des US-Geheimdienstes bedurft, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Schon im August letzten Jahres zog n-tv ein vernichtendes Fazit der westlichen Syrien-Politik: „Mit dem IS haben die USA somit nach Al-Kaida ein neues Monster mitgeschaffen, doch es ist größer und cleverer als das alte.“ (23)
Die Anschläge von Paris haben bewiesen, dass das selbst erschaffene Monster nicht zu bändigen ist. Damaskus warnt seit Jahren davor, dass der vom Westen in Syrien unterstützte Terror auf ihn selbst zurückfallen wird.
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Bei aller Bestürzung und allem Entsetzen über die schrecklichen Attentate von Paris, bei aller Anteilnahme mit den Opfern und ihren Hinterbliebenen und bei aller Wut auf die Täter, sollte eins nicht vergessen werden: Der Westen, und Frankreich agierte hier als besonders aggressiv-treibende Kraft, hat sich in den letzten Jahren – ob in Libyen, Syrien oder Jemen – zum Komplizen der Dschihadisten gemacht, für deren Bekämpfung er gleichzeitig immer mehr seiner identitätsstiftenden „Werte“ in Form bürgerlicher Freiheiten zu opfern bereit ist.“
Quelle: http://www.hintergrund.de/201511173751/politik/welt/paris-terror-is-coming-home.html