Telefonate, die man im Schatten des Atompilzes führt

Arbeit. Es geht immer nur darum. Die Hälfte aller Artikel, die so ein Magazin in die Welt setzt, hat mit Arbeit zu tun. Mit der Arbeitsmarktsituation oder mit Empfehlungen, wie man am Arbeitsplatz erfolgreich ist. Was bedeuten politische Entscheidungen für ihren Job? Und wenn ja, wie kann ich trotzdem Erfolg haben? Ja, selbst die Unterhaltung taucht in die Arbeit ab. Kaum ein Programm, in dem nicht Bewerbungen oder Stellengesuche zentrales Thema sind.
Telefonate, die man im Schatten des Atompilzes führtIn manchen Sendungen retten Sterneköche den schlechten Arbeitsplatz von Leuten, die gerne Koch wären. Woanders wird Bewerbungsehrgeiz postuliert und erklärt, dass der, der wolle, auch könne und der, der besonders wolle, auch jegliche Chance bekomme. Dann gibt es Formate, in denen sich Arbeitgeber schön rausputzen, ihre Belegschaft bespitzeln oder wahlweise einstellen und in die Kamera erklären, dass sie Leistungsträger sind und bleiben wollen. Man sieht Leute beim Praktikum oder in der Probezeit, in der Routine des Arbeitsablaufs oder in Hochbetrieb. Immer nur Arbeit. Ohne sie scheint es keine Unterhaltung zu geben. Der homo laboris braucht sein Quäntchen Arbeit auch dann, wenn er nicht arbeitet. Er ist immer mit Arbeit, besser gesagt mit Erwerbsarbeit, beschäftigt. Wenn nicht körperlich und in Aktivzeiten, so doch wenigstens geistig und zur Kontemplation.

Das erinnert mich an eine Geschichte, die Charles Bukowski mal in einem Interview erzählt hat. Eigentlich wollte er dieses Erlebnis in sein Buch Der Mann mit der Ledertasche packen - sie war ihm aber entfallen und erst wieder bei einem Interview 1975 in den Sinn geraten.
Sie geht ungefähr so: Als er bei der Post beschäftigt war, bekamen alle dort Angestellten eine Broschüre ausgehändigt. Das muss irgendwann in den Sechzigern gewesen sein. Titel der Broschüre war: "Wie verhalte ich mich bei einem atomaren Angriff?" Nach Schilderungen, was alles passiert, wenn ein Atomschlag geschieht und der beschriebenen Aussicht, dass dann nicht mehr viel los sei, folgte einen dienstlichen Ratschlag. Für Postangestellte gäbe es für die Zeit nach einem Atomangriff eine spezielle Telefonnummer, die man wählen könne, um sich zum Dienst zurückzumelden. Ich bin radioaktiv verstrahlt, Boss, aber noch gut in Schuss! Die Post dürfte ja nach so einem Ereignis ja ziemlich im Arsch sein, aber wer dort anruft, steht auf der Liste derer, die beim Aufbau einer neuen Post helfen dürfen. Sogar mit Gehaltsnachzahlungen, glaubte Bukowski sich zu erinnern.
Bukowski sagt im selben Interview, dass er in seinen Geschichten manchmal etwas dazuerfindet, um die Realität spannender zu machen. Aber diese Sache, die war echt. Er musste sie gar nicht dramatisieren. Genau so war es. Die Öffentlichkeit habe diese Broschüre nie zu sehen bekommen.
Diese Geschichte ist so eine Art wahre Parabel auf diesen Arbeitswahn. Das Land ist radioaktiv verseucht, aber es gibt Hoffnung, denn man kann eine Arbeit durch bloßen Anruf erhalten. Dass das die Idioten an der Spitze eines Unternehmens gut finden, ist normal. Die sitzen ja wahrscheinlich in isolierten Schutzräumen und werten nur ihre Profitmaximierungsquoten aus. Dass es aber bestimmt genügend Postangestellte gab, die beruhigt einschliefen, weil sie nun wussten, ihre Arbeit ist selbst in der größten Katastrophe noch sicher, das zeigt nur, wie verinnerlicht der Mythos von der Arbeit ist. Man brauchte den Overkill nicht fürchten, denn es geht einfach weiter. Solch tröstliche Meldungen hört man heute nur selten.
Gut, vor einem Atomschlag haben wir heute keine Angst mehr. Wir haben gelernt, mit der Gefahr zu leben. Wir wollen heute nur gewährleistet wissen, dass nach einem Reaktorunglück noch die gesamte Unterhaltung auf Arbeit und Erwerb getrimmt ist. Casting-Shows für Bewerber oder Kamerateams, die Angestellte bei wer weiß was begleiten - das wollen die Leute. Und zwischendrin Berichte vom Arbeitsmarkt, Analysen und Diagnosen und Erbauungstexte. Nur wenn wir schon am Freitagabend Monday, Monday, so good to me ... trällern können, nennen wir das Glück.
Eine Welt ohne Arbeit gibt es nicht. Das leuchtet ein. Von nichts kommt ja nichts. Spießerspruch, der nicht ganz falsch ist, auch wenn man ihn oft falsch anbringt. Aber Nischen ohne Arbeit sollten doch wohl möglich sein. Die muss es sogar geben. Um Abwechslung zu haben und um abzuschalten. Aber der zeitgenössische Mensch schaltet nicht ab. Er kommt vom Arbeitsmarkt, pflanzt sich auf seine Couch und zappt in den Arbeitsmarkt hinein, bevor er vom Arbeitsmarkt liest und Seminaren über den Arbeitsmarkt in der Volkshochschule lauscht. Er ist dauernd mit dem Sachgebiet Erwerbsarbeit beschäftigt. Selbst dann, wenn er sie schon hinter sich gebracht hat und bis zum nächsten Morgen einfach vergessen könnte.
Die großen und auch teils noch die modernen Klassiker erzählen von den vielen Facetten der Liebe, von Abenteuern und Erlebnissen, von Krieg und Frieden, von Sex und Leidenschaft, von den Erfahrungen des Menschen im Alltag. Zu letzterem gehört auch die Arbeit und die kommt darin auch vor. Auch. Nicht nur. In der alten Unterhaltung flüchtete der Mensch aus seinem Trott. Max Frisch schuf einen homo faber, also einen schaffenden Menschen, der wider seinem Namen aber nicht arbeitet, sondern aus dem Mief seines Erwerbslebens flieht. Die Arbeit kommt auch da vor. Als Teilbereich des Lebens. In der neuen Unterhaltung ist sie das Leben. Der homo faber schafft fernab des Jobs. Sich Freiräume. Sich Freiheit. Wenigstens für eine Weile.
Davon hört und spürt man heute nichts mehr. Hundertprozentiger Einsatz. Immer. Überall. Wer locker läßt, der verliert. Wer nie locker läßt, verliert auch. Damit uns das aber nicht zu bewusst wird, zappen wir uns ins TV-Programm, da wird schon irgendein Arschloch auf uns warten und uns Berichte von einem ganz tollen Assessment-Center liefern. Komm, Kumpel, rappel' dich auf und sieh, wie es auch gehen kann, wenn man sich noch mehr engagiert. Und manche arme Sau glaubt es sogar.
Es gibt kein anderes Leben im Arbeitsleben. Und Arbeitsleben ist ständig. Wenn wir heute eine Reportage über die lettische Küche gucken, dann wollen wir immer auch wissen, wie die Leute ihre Speisen finanzieren, wo sie nach der Arbeit einkaufen, ob sie Arbeit haben und was sie so arbeiten. Und wenn wir dann schon dabei sind, dann bitte gleich noch einen Bericht über die lettische Konjunktur, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und den Durchschnittslohn. Über Küche alleine kann man nicht mehr sprechen. Über nichts kann man sprechen, ohne gleich das Erwerbsleben einzubeziehen. Wir lauschen den Klängen eines Barden und fragen uns, ob er davon leben kann. Wir loben die grandiose Currywurst und unterhalten uns nicht über ihre Zubereitung, sondern darüber, ob sich so ein Imbiss überhaupt rechnet. Und was hat der Mann hinter der Theke eigentlich früher gearbeitet und warum tut er das heute nicht mehr? Verlor er den Job aufgrund schlechter Konjunkturlage? Warum war sie schlecht? Und warum ist die Wurst so gut, obwohl es manchmal schlechte Konjunktur gibt? Ohne solche Fragen kommen wir nicht mehr aus.
Selbst die Ethik ist davon befallen. Jetzt liest man, dass Rumänen und Bulgaren durchaus willkommen sind in Deutschland. Nee, nicht weil man plötzlich ein liebes Mitmenschenherz gefunden hat. Weil es billige und notwendige Arbeitskräfte sind. Sie tun unserem Arbeitsmarkt gut. Arbeit ist das omnipräsente Argument.
Wir werden alle am Abend vor der Glotze hocken und unsere Müdigkeit mit dieser totalen Erwerbsverarbeitung des Daseins einlullen, wenn die Bombe runterkommt. Und ich habe nicht mal eine Telefonnummer, die ich wählen könnte. Dann ist es doch gleich besser, ich bin sofort tot. Immer noch besser als gar keine Arbeit.
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