Täter und Opfer: Die andere Perspektive

Von Modesty

Es ist mehr als nur ein Klischee, dass Täter meistens auch Opfer sind. Und dass Gewalt in den besten Familien vor kommt, auch wenn man sie gerade dort nicht wahrnehmen will. Gewalt, Missbrauch, Sucht und Versagen – schrecklich, nicht wahr? Da schaut man lieber nicht so genau hin: aber nein, bei uns gibt es so etwas nicht. Wir sind doch aufgeklärte Menschen. Wir können über alles reden. Theoretisch. Denn in der Praxis kommt so etwas ja nicht vor.

Die Familie meines Ex ist ein typisches Beispiel: Gut situierte, gebildete, weltoffene Leute, tendenziell linksalternativ, gemäßigt versteht sich, durch und durch bürgerlich. Ich hab mich dort wohl gefühlt, ich finde es nun mal gut, wenn man auch über andere Themen als Wetter, Essen und Wer-mit-wem reden kann. Literatur, Musik, Film, Reisen, Sprachen – es gibt so viele interessante Dinge auf der Welt. Später musste ich dann feststellen, dass eben diese weltoffenen und herzlichen Menschen dreißig Jahre lang verdrängt hatten, dass ihr Sohn, der in den langen Sommerferien bei Oma und Tante geparkt wurde, während einer längeren Abwesenheit seiner Eltern wahrscheinlich Missbrauchsopfer geworden war. Und deshalb auch so gut gelernt hat, Unangenehmes zu verdrängen und sich zu verstellen – er war unglaublich gut darin, sich so zu geben, wie die Menschen um ihn herum ihn haben wollten. Niemand konnte sich vor stellen, dass dieser Mensch seine Frau schlägt. Nicht mal er selbst.

Das genau war das Problem. Wenn man mit jemanden zusammen lebt, kriegt man zwangsläufig mit, wie der andere drauf ist. Irgendwann kriegt man auch mit, wenn etwas nicht stimmt. Und nach und nach stellte sich heraus, dass ziemlich viel nicht stimmte. Dass fast alles Fassade war, der angebliche Job, die angebliche Firma, ja, es gab eine Adresse, ein Büro, einen Schreibtisch, einen Computer und ein Telefon. Aber kaum Umsatz. Keinen Gewinn. Nur Kosten. Büromiete seit Monaten nicht bezahlt, Telefon nicht bezahlt, Handyrechnung nicht bezahlt, Stromrechnung nicht bezahlt, Versicherungen nicht bezahlt, Auto nicht bezahlt und so weiter. Kein Wunder, dass der Kerl ständig Geld brauchte. Damit fing es an – nach und nach bekam ich auch den Rest heraus. Der Mensch war eine personifizierte Lebenslüge.

Es wurde uferlos. Ich bekam Panik: In was war ich da reingeraten? Ich komme aus einer Familie, in der die Leute immer hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten. Handwerker, Bauern, Binnenschiffer. Wurde etwas gebraucht, dann wurde gespart, bis man das Geld zusammen hatte. Dann erst wurde angeschafft. Das ist nichts, worauf ich stolz bin. Es steckt einfach in mir drin: Man lebt nicht über seine Verhältnisse. Man leistet sich nur das, was man sich leisten kann. Man kriegt nichts geschenkt. Damit bin ich aufgewachsen. Ich fand das nicht toll, im Gegenteil, es kotzte mich an. Es musste doch noch was anders geben als Arbeit und Pflicht. Aber: Ich hatte zwar immer wenig Geld, aber ich war nie pleite. Ich konnte damit umgehen.

Ich halte Bescheidenheit nicht unbedingt für eine Tugend – im Gegenteil, gerade die Bescheidenen sollten endlich damit auf hören, auch noch stolz darauf zu sein, wie gut sie sich in der Armut einrichten können: Weil die einen ihre Bedürfnisse zurückschrauben, können die anderen umso ungehemmter auf deren Kosten leben. Jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten, das geht schon in Ordnung, wenn alle an einem Strang ziehen und bereit sind, etwas beizutragen. Dann könnte es allen gut gehen. Aber solange es so viele Arschlöscher gibt, die nichts dabei finden, auf Kosten der anderen zu leben, geht das halt nicht. Und ich war mal wieder an ein solches Arschloch geraten. Geld war in seiner Familie kein Thema, das hatte man. Aber woher? Gute Bildung bedeutete einstmals gute Jobs, in der Elterngeneration hatte das noch funktioniert. Man lebt sehr gut, wenn man im geerbten Haus wohnen kann und ein komfortables Mittelklassegehalt zur Verfügung hat. Wenn es weder mit dem Erbe, noch mit dem Gehalt klappt, sieht es dagegen ziemlich beschissen aus. Besonders wenn man dann auch noch Ansprüche hat – eine große Wohnung, ein komfortables Auto, ein neues Handy, das gehörte für meine Ex einfach dazu. Und wenn man das nicht bezahlen kann, denkt man einfach nicht mehr drüber nach.

Verrückt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man dermaßen über seine Verhältnisse leben kann. Mein Ex wollte das Leben seiner Eltern leben, aber er hatte im Gegensatz zu ihnen noch nichts geerbt und leider auch nicht die Disziplin, einfach seinen Job zu machen. Also tat er nur so und lebte auf Pump. Für mich undenkbar. Und nun war ich durch meine Heirat in seinen Schuldensumpf geraten. Etwas, das ich für mich unter allen Umständen verhindert hätte. Aber ich hatte das nicht geahnt.

Und mein Ex? Der war unglaublich wütend auf mich – weil ich dabei war, seine mühsam aufrecht erhaltene Fassade einzureißen. Er war eben nicht der dynamisch-alternative Jungunternehmer, der ein bisschen später als andere durchgestartet war, weil er erst noch mal schnell die Welt retten musste. Auch wenn er sehr überzeugend so auftrat. Er war nur ein armes Würstchen, das über sein ganzes Autonomen-Sein vergessen hatte, sich rechtzeitig um einen vernünftigen Job zu kümmern, wie die meisten seiner Kumpels es getan hatten. Denn die meisten Hausbesetzer von damals waren keine Revoluzzer, sondern junge Leute, die billigen Wohnraum suchten, um dort ihr durchaus bürgerliches Ding aufzuziehen. Der eine mit gebrauchten Waschmaschinen, der andere mit Nudeln, Bier und Wein und oder auch mit Politik. Früher ging man zur PDS, heute eher zu den Piraten. Bei den einen klappte es mit der bürgerlichen Existenz ganz gut, bei den anderen weniger. Bei meinem Ex klappte es gar nicht, der kam buchstäblich nicht weiter mit seinem Latein und Altgriechisch. Aber er wäre eher gestorben, als das zuzugeben. Und da kam dann leider ich ins Spiel. Ich dachte, er wäre ein ähnlich erfolgreicher Durchmauscheler wie ich. Fataler Irrtum!

Bei vielen Ehedramen spielt Eifersucht eine Rolle – in diesem Fall aber nicht. Bei all dem bürgerlichen Scheißdreck, den ich ihm vorwerfen kann, eifersüchtig im klassischen Sinne war er nicht. Es ging allerdings auch um verletztes Ehrgefühl – und das ist genauso erbärmlich. Er fand, dass er ein Recht auf ein gutes Leben mit allem drum und dran hatte – nur irgendwer musste das bezahlen. Das ist halt so in dieser Gesellschaft. Das hab ich mir auch nicht ausgesucht. Letztlich war ihm egal wer bezahlen musste. Mir aber nicht, denn – auch wenn er immer wieder betonte, dass das alles ja gar nicht seine Absicht sei, und ich das nicht so persönlich nehmen sollte – letztlich war ich diejenige, die dafür anschaffen gehen musste. Und ich verdiente nun mal nicht genug.

Und selbst wenn ich einen besseren Job gehabt hätte – warum kam der überhaupt auf die Idee, dass ich für seinen Scheiß zuständig war? Wir haben ja nicht gemeinsam beschlossen hier oder dort zu investieren. Das wäre noch etwas anderes gewesen. Er hat einfach jahrelang Scheiße gebaut, konsequent so getan, als existiere sie nicht und sich jemanden gesucht, der künftig für sein Leben zuständig sein sollte, weil ihm die Sache über den Kopf wuchs. Das hat erstmal funktioniert, er hat ja mich gefunden, umworben und schließlich eingefangen. Und als ich dann nicht so mit machen wollte, wie er sich das vorgestellt hatte, ist die Situation entgleist.

Das Irre ist: Ich habe eine zeitlang sogar ernsthaft versucht, ihm zu helfen. Nachdem er sich für seine Freunde immer als der große Problemlöser dargestellt hat, glaubte ich, dass er tatsächlich in der Lage wäre, Probleme zu erkennen und zu lösen. Aber das Fatale war, dass ja nur die anderen Probleme hatten. Er hatte keine. Wenn ich ihm mit meinem kleinkarierten Denken keine bereiten würde. Die Tatsache, dass ich ihm helfen wollte, schließlich liebte ich ihn doch, mündete für ihn in eine existenzielle Bedrohung: Dann hätte er zugeben müssen, wie übel es wirklich um ihn stand. Was war ich doch für eine beschissene Spielverderberin. Während ich verzweifelt versuchte, irgendwas zu retten, fing er an, mich zu bekämpfen.

Und noch irrer war: Als ich feststellte, dass die Lage hoffnungslos war, und ich da nur raus kommen konnte, wenn ich ihn verließ, war ich auch für seine Familie die kleinkarierte Spielverderberin. Wie konnte ich ihn nur im Stich lassen, wo er mich doch so dringend brauchte? Und ich sollte meine absurden Beschuldigungen zurück nehmen, ihr zwar nicht ganz normgerechter, aber doch eigentlich lieber Sohn war vielleicht ein bisschen ungeschickt mit Geld, aber er tat doch niemanden etwas! Angesichts dieser Phalanx familiärer Verdrängung konnte ich nur kapitulieren.

Aber es war auf jeden Fall ein Anlass, mir über die Perversität der bürgerlichen Gesellschaft klar zu werden. Geld spielt keine Rolle, Hauptsache man hat genug davon. Und wenn nicht, findet sich schon ein Dummer, der zahlt. Und wenn der nicht mitmachen will, holt man die Moralkeule raus.