Tass ist ermächtigt, zu erklären

Tass ist ermächtigt, zu erklären"In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört", schrieben die Mütter und Väter der friedlichen Revolution in der DDR vor zwei Jahrzehnten in ihrem Aufruf "Aufbruch 89 - Neues Forum" (Original im Bild oben) - und selten behielt ein offener Brief von unten nach oben so nachhaltig Recht. 20 Jahre nach dem Vollzug der deutschen Einheit ist der Patient ein anderer, die Diagnose aber stimmt immer noch. Während eine kleine Schicht aus Parteifunktionären, Berufspolitiker, Medienschaffenden und Talkshowschauspielern gesellschaftliche Debatten simuliert, steht das nun einige Volk stumm und staunend vor den Empfängern. Das also sollen die Sichtachsen sein, durch die sich 82 Millionen Inländern der Blick auf die Realität eröffnet?
Es ist wie in den Tagen, als Tass ermächtigt war zu erklären, welche Wahrheit das Politbüro beschlossen hatte. Die Kanzlerin, in Bremen geboren und im Osten sozialisiert, erklärt unerwünschte Meinungen Kraft ihres Amtes zu "unnützen", der Bundespräsident, infolge einer mittleren Staatskrise ins Amt gescheitert, nachdem sein Vorgänger aus nie geklärten Gründen das Handtuch geworfen hatte, betont die Unabhängigkeit der Staatsbank und unterminiert sie im nächsten Halbsatz.
Von den Rängen kommt Applaus wie bestellt, nicht stures Nachfragen nach Hintergründen. Tass ist ermächtigt zu erklären, dass alles seine Ordnung hat. Ein Buchautor, wegen Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung mit Berufsverbot bedroht, muss die Regierenden schließlich vor dem Untergang retten, indem er staatsbürgerlich verantwortlich auf sein Recht verzichtet, die Schnellschwätzer vor Gericht bloßzustellen. Und den Staat damit, nur fünf Monate nach seiner letzten, erneut in eine Machtkrise zu stürzen.
Zu lesen ist dazu nichts. Zu hören ist dazu nichts. Die Talkshows diskutieren Stilfragen, das Publikum darf sich in Umfragen äußern. Kommentatoren vergeben Haltungsnoten. Die Regierenden gehen dazu über, in Ermangelung von Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart die Zukunft zu regieren. Den Parlamenten, die nachkommen werden, wird verboten, was sich jedes Parlament bisher als Grundrecht nahm: Das Schuldenmachen. Auch dem Bürger, der vor 20 Jahren euphorisch in die neue Freiheit taumelte, kommt man inzwischen am besten mit Verboten bei, die ihm suggerieren, dass sein Staat sich kümmert. Mit Glücksspiel, Nikotinverbot, dem Verbot nächtlicher Biereinkäufe, der frühkindliche Zwangserziehung außer Haus, dem nachmittäglichen gemeinsamen Lernen in der Jungpionierfreundschaft, der Neuerfindung des guten alten "Klassenfeindes" als gesellschaftsgefährdendes Nazischwein und der Überwachung des Bürgers durch elektronische Peronalausweise, gläserne Gesundheitskarten und Sammeldatenbanken beim Finanzamt. Das alles gut getarnt durch den öffentlich und hysterische geführten Kampf gegen die Vollerfassung deutscher Hausfassaden.
"Wenn es wenigstens ein politisches Klima gegeben hätte, in dem man offen über die Probleme diskutiert hätte", wird die Systemgegnerin Sahra Wagenknecht in nicht allzu ferner Zukunft wieder klagen, diesmal mit der Erkenntnis im Hinterkopf, dass nun auch den Leuten im Westen zu lange erzählt worden sei, dass sie alles haben und einfach glücklich sein müssten. "Da fühlten sie sich einfach verarscht, und damit hatten sie ja auch recht."
Während ein Ministerpräsident in Hauslatschen den Import von Katholiken zur Aufrechterhaltung der Art fordert, arbeiten die Regierenden an der Einrichtung eines vormundschaftlichen Staates , wie ihn der längst vergessene DDR-Dissident Rolf Henrich vor mehr als 20 Jahren in seiner siechenden Heimat entdeckt hatte. Betreutes Leben, rund um die Uhr, mit Staatskino im Abendprogramm. Tass ist ermächtigt, zu erklären, dass alles seine gute Ordnung hat, berichten "Spiegel", "Zeit" oder "FAZ" abwechselnd vorab. Die Kanzlerin hat Tacheles gesprochen, die Arbeitsministerin neue Wohltaten vorbereitet, der Verteidigungsminister will auf Fremdenlegion umstellen, der Oppositionsführer droht faulen Ausländern mit Abschiebung, obwohl nirgendwo im deutschen Recht ein Hinweis darauf zu finden ist, dass Integration Voraussetzung für den Aufenthalt in Deutschland ist.
"Wir weinen ihnen keine Träne nach", wird Kanzler Sigmar Gabriel bei der Verabschiedung des letzten Zuges mit Abschiebehäftlingen am Berliner Hauptbahnhof sagen, die Hand stolz zum Winken erhoben. Bärbel Bohley ist tot, Rolf Henrich in Rente und Tass ermächtigt, zu erklären: Alles wird gut. Nur wer entschlossen handelt, verhindert einen neuen Sarrazin, schafft nach jedem Amoklauf immer wieder neues, verschärftes Waffenrecht, das alle künftigen verhindert, schützt Anleger, verhindert Finanzkrisen, Millionenprämien für Banker und schmutzige Speisegaststätten. Nur wer politisches Handeln unermüdlich simuliert, behält die Macht.


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