Tanztheater International in Hannover 2013 - "Think Big", Künstlerresidenzprogramm

Von Helge


Zur Zeit findet es wieder in Hannover statt: das Tanztheater International, zum 28. Mal! Noch bis zum 7. September. Heute gibt es bereits den 4. Beitrag (die 5. Vorstellung): Heddy Mahlem und seine Kompanie aus Frankreich - die in Hannover schon zweimal aufgetreten sind und große Begeisterung hervorgerufen haben - stellen dieses Mal den aggressiven Tanz "Krump" aus den Armenvierteln von Los Angeles vor. "Éloge du puissant royaume", Lob auf das Königreich. Mehr Informationen auf der Netzseite des Tanztheater International

Doch nun zu einer dreifachen Darbietung, die ich am Samstag 31. August besucht habe - die Ergebnisse des Künstlerresidenzprogramms "Think Big". Drei junge ChoreografInnen, ausgewählt von einer Jury, hatten die Gelegenheit bekommen, mit einem in Hannover selbst zusammengestellten Ensemble ein eigenes neues Tanzstück zu erarbeiten: Matthias Kass, Maura Morales und Shumpei Nemoto.


Unter der Überschrift "Unknowing" hatte sich Matthias Kass (aus Deutschland) das Thema Klarheit vorgenommen. Was ist Klarheit, wie kann ich sie erreichen und was hindert mich daran? Das sind die Fragen, denen Kass nachgeht, mit dem Schwerpunkt auf dem letzteren, den Hindernissen und Störungen.

Es beginnt in der Gruppe, bis zu neun TänzerInnen, mit maschinenhaften Bewegungen. Zu entsprechenden elektronischen, lauten Klängen. Chaotisierung, der Umweg über die Unklarheit. Später werden Paare gebildet, die meist kämpferisch miteinander umgehen, manchmal auch liebend (ein Mensch bleibt abseits und ausgeschlossen). Momente der Harmonisierung blitzen auf im Solo. Das Kopfstehen (die Umgebung aus einer anderen Perspektive betrachten) und Sich-immer-wieder-Aufrichten kann hilfreich sein. Wieder maschinenhaft-mechanische Bewegung. Soll das der Weg zur Klarheit sein? Zunehmende Technisierung? Oder ist das der Weg: erst einmal bei sich selber anfangen - was hier aber nur kurz aufleuchtet? Es mag mit meiner eigenen Haltung zu tun haben, die offensichtlich anders ist, die Darstellung lässt bei mir mehr Fragen zurück, als dass ich Antworten bekomme. Kass' Tanzstück scheint mir mehr von der Unmöglichkeit der Klarheit in heutiger Zeit zu erzählen. Momente der Stille oder gar der meditativen Haltung fehlen.

Der asiatische Weg wäre vollkommen anders. Das zeigt auch die Arbeit von Shumpei Nemoto, der in Japan geboren wurde und derzeit in Stockholm lebt und arbeitet. "A Notion of the Tides" verbildlicht den Grundgedanken der "dynamic balance" - Gleichgewicht nicht durch Gegenüberstellung polarer Gegensätze, sondern dadurch, dass die Elemente eines Systems mit ihren Qualitäten dynamisch ineinander verwandelt werden. Es geht um eine Balance, bei der in der Gruppe der Einzelne, in der Bewegung die Ruhe und in der Fülle die Leere mitgedacht werden (so hat es der Künstler formuiert).

Diese Darbietung beginnt mit einem einzelnen Menschen, still (noch ohne Musik), sehr konzentriert. Bald setzt Musik ein und steigert sich, mehr und mehr Menschen kommen zur Gruppe zusammen. Sie beginnen gemeinsam ein leichtes Schwingen zu glockenähnlicher (vom Gong inspirierter) Musik. So sanft bleibt es nicht, Steigerungen bis hin zu Aggressivität und Chaos, bis wieder Gleichgewicht entsteht. Auch die Paarbeziehungen sind nicht konfliktlos, finden ihre Balance aber auf dem Wege der Rituale (Anklänge an Kampfsport). Am Ende Rückkehr zu harmonischen Bewegungen und Konzentration, wieder das leichte gemeinsame Schwingen - das Gleichgewicht auf höherer Ebene neu errungen? Eine grundsätzlich überzeugende Uraufführung.

 

 Die dritte Arbeit - von Maura Morales, die aus Kuba stammt - hat mich inhaltlich weniger überzeugt. Mit "El Balle de San Vito" versucht sie, die seltsame mittelalterliche Erscheinung der "Tanzwut" (auch Veitstanz genannt) auf die Bühne zu bringen, die seit dem 7. Jahrhundert belegt ist und unter vorher unauffälligen Stadtbewohnern besonders nach Zeiten großer Not auftrat. "In diesen Krisen sprengte sie (die Tanzwut) soziale Fesseln und kehrte das unterste nach oben. Dabei war sie nicht selten Symptom, Krankheit und Therapie zugleich", heißt es im Begleittext. Bei mir sind Zweifel geblieben, ob diese Darbietung eine angemessene (respektvolle) Form der Darstellung war; sie erschöpfte sich vielfach in der Nachahmung der "Verrückten" (in weißer Anstaltskleidung); die tieferen Hintergründe werden nicht angesprochen, lassen sich wahrscheinlich auch nicht mit tänzerischen Mitteln ins Bild bringen. Verfehlt fand ich jedenfalls den Anfang, als ein einzelner "Kranker" durch sein Grinsen die ZuschauerInnen zum Lachen brachte. Aber ohne Frage: hervorragend getanzt und choreografiert.

Alle drei Uraufführungen waren in jedem Fall interessant und lohnten den Besuch. Vielleicht mögen Sie eine der weiteren Aufführungen besuchen? Am Dienstag können Sie die Kompanie "K. Kvarnström & Co." aus Schweden, am Mittwoch die Compagnie Nacera Belaza erleben. Weitere Informationen können Sie meinem Vorbericht entnehmen.