Tanzend in den Abgrund

Das Publikum macht sich bereit für einen langen Theaterabend. Fünf Stunden inklusive Pause steht im Programmheft. Dass fünf Stunden dermaßen schnell vergehen können, ist ein Theatererlebnis der neuen Art.

„Vernon Subutex“ ist der Titel jenes Stückes, das derzeit am Schauspielhaus in Graz die Geister scheidet. Nach einer Romanvorlage der Französin Virginie Despentes, die für das Theater adaptiert wurde, heißt es schon zur Halbzeit: Entweder es gefällt, oder das Theater wird in der Pause kurzerhand verlassen. Alle, die dies tun, fallen um einige eindrucksvolle Bilder um. Und um einen dystopischen Schluss, der mit einem humorigen Epilog doch noch erträglich wird.

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Die Geschichte, mit Nebenverästelungen, erzählt vom Leben Vernons Subutex, gespielt von Norbert Wally, der dazu kräftig seine E-Gitarre bedient und rockige Melodien singt. (Komposition Benedikt Brachtel) Subutex wird als Drogensubstitut für Heroin eingesetzt und tatsächlich spielen Drogen eine zentrale Rolle in dem Stück. Vernon war einmal Besitzer eines Plattenladens und wurde vom Popstar Alex Bleach (Clemens Maria Riegler) über viele Jahre mit Geld versorgt. Davon konnte er seine Miete bezahlen. Als Alex stirbt – auf der Bühne bildlich dargestellt in Anlehnung an „Der Tod des Marat“ von Jacques-Louis David, sitzt Vernon bald auf der Straße und wird zum Obdachlosen im Einmann-Zelt. Die Marat-Metapher stimmt insofern, als die Musik von Alex später als subversiv verboten gilt, er aber Kassetten hinterlassen hat, die sein Vermächtnis tragen. Marat – später als Revolutionsmärtyrer gefeiert – veröffentlichte inmitten der Revolutionsphase widerständige Aufrufe bis hin zum Sturz des Königs.

Alex lebte in einer Hassliebe mit einer jungen Frau zusammen, der er jede Menge Stoff besorgte. Diese arbeitete als Pornodarstellerin für einen verkommenen, aber reichen Filmproduzenten mit mafiösem Umfeld, der sie drogenabhängig machte. Die Erziehung ihrer kleinen Tochter überließ die Schauspielerin ihrem Mann, einem Universitätsangestellten mit arabischen Wurzeln. Kurz darauf verstarb die „Porneuse“ – wie sie sich selbst bezeichnete, eines gewaltsamen Todes durch Schergen ihres Produzenten, dem sie mit Enthüllungen einer Pornoringes mit Politikern drohte. Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als ihre Tochter nach vielen Jahren vom wahren Leben ihrer Mutter erfährt und ihren Tod rächen will. Zum Entsetzen ihres Vaters ist sie ausübende Muslimin. Katrija Lehmann changiert zwischen aufmüpfiger Jugendlicher und gläubiger Jung-Muslimin, die sogar bereit ist, sich einem patriarchalischen Diktat zu unterwerfen, was ihren Vater (Franz Solar) zur Verzweiflung treibt.

Neben den genannten werden noch viele andere Charaktere vorgestellt und in die Handlung verwoben. Einen höchst eindrücklichen, furios angelegten Monolog hält Florian Köhler als Börsenmakler Kiko. Getrieben von seiner Geldgier und aufputschenden Drogen kommt es zu darin auch zu einer veritablen Publikumsbeschimpfung. In seiner Wutansprache macht er klar, dass das Börsengeschehen der wahre Motivator des Turbokapitalismus ist, dem alles andere untergeordnet ist. Köhler trägt seinen Text mit derartiger Verve vor, dass er – trotz Hilferuf nach der Souffleuse – zu Recht mit Zwischenapplaus bedacht wurde.

Ebenso aufwühlend und herausragend gespielt ist jene Szene, in der sich eine junge Obdachlose (Julia Gräfner) und ein rassistischer Arbeiter (Fredrik Jan Hofmann) bis aufs Blut befetzen – um letztlich gemeinsam, im Verstehen des Verlustes, über den Tod ihrer geliebten Hunde zu weinen.

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Die Regie von Alexander Eisenach stellt der Geschichte einen Prolog voran, den Despentes ans Ende ihrer Romantrilogie gesetzt hat. Darin erklärt ein gealtertes Paar aus der Zukunft in Marsbewohnerverkleidung, was es mit der Subutex-Bewegung auf sich hat. Beatrice Frey und Rudi Widerhofer haben nicht nur hier, sondern in ihren zweiten Rollen als Pennerpaar die Sympathien auf ihrer Seite. Die Subutex-Gruppe muss sich versteckt halten, um nicht umgebracht zu werden. In einer Welt, in der alle und alles kontrolliert und beschränkt wird und dem Turbokapitalismus untergeordnet ist, hält sie an einem Lebensstil ohne Zwang und Konsum fest und feiert und tanzt im Wissen, eine verfolgte Randgruppe zu sein.

Dank einer grandiosen Bodenchoreografie von Alex Deutinger und Marta Navaridas – bei der alle Subutex-Mitglieder in Unterwäsche am glitschigen Boden rutschen und von einer Kamera dabei gefilmt und auf eine Leinwand projiziert werden, lässt Eisenach jenes ausgelassene Lebensgefühl nachvollziehbar machen, das der kapitalistischen Obrigkeit ein Dorn im Auge ist. Daniel Wollenzin setzt in seinem Bühnenbild am Ende noch die spannende und opulente Idee eines dreiteiligen, bunten Kathedralenfensters um. In diesem flimmern auf kleinteiligen Bildschirmen Videos von Subutex-Anhängern. Vernon selbst wird letztlich in der Pose des gekreuzigten Christus – inklusive Kreuzabnahme – vorgeführt und verweist damit auch ohne weitere Aufklärung das gewaltsame Ende der Gruppe.

Die komplexe Handlung mit ihren vielen Nebensträngen wird in der Inszenierung nach einem eher langatmigen Einstieg kurzweilig präsentiert. Um jedoch die Metabotschaft zu verstehen, muss man imstande sein, auch feine Untertöne wahrzunehmen und jene Metaphern zu erkennen, die trotz allem Trubel und trotz aller vermeintlicher Hippie-Glückseligkeit das Drama unseres aktuellen Zeitgeschehens in sich tragen. Der Blick in eine zukünftige Welt, in der Andersdenkende und Anderslebende geächtet werden und in welcher Musik verboten ist, scheint leider nur auf den ersten Blick übertrieben. Der scheinbar unstillbare Drang nach noch mehr Überwachung, sei es von Internetgiganten oder politischen Parteien selbst, lässt ein Szenario wie jenes von „Vernon Subutex“ letztlich aber nicht gänzlich illusorisch erscheinen. Leider. Ein sehenswerter und nachdenkenswerter Theaterabend.


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