Tanz und Voyeurismus – 32 Rue Vandenbranden: Marstall// Peeping Tom

Von Theatertogo @MarieGolueke

Peeping Tom, der Voyeur aus der Sage der Lady Godiva. Wir, die Zuschauer, sind die Peeping Toms dieses Abends. Aber wir erblinden nicht wie in dieser Geschichte. Und genau das ist die Kunst dieses Stückes. Den offenen Augen und Ohren wird eine Welt eröffnet, die unbequemer oder brutaler nicht sein könnte – aber man will nicht wegsehen, im Gegenteil.

Vom verschneiten München ins verschneite Theater – das naturalistisch anmutende Bühnenbild zeigt Wellblechbaracke und Bauwagen in tief verschneiter Landschaft. Im Hintergrund zwei kleine Grablichter im Schnee. Unwirtlich, es bläst ein eisiger Wind, Müllbeutel fliegen, eine Frau mit eingezogenem Kopf und Stöckelschuhen kämpft sich voran. Ein schreiendes Baby neben einem der Häuschen im Schnee – so geschickt gemacht, dass ich es einen Moment lang für echt halte. Die Stöckelschuhfrau beugt sich zu dem Kind – und bedeckt es mit Schnee, vergräbt es. Eiskalt.

Die Frage, wozu Menschen fähig sind, stellt sich nicht nur in ethisch-moralischer Hinsicht – die enorme Körperlichkeit und fantastische Flexibilität aller Tänzer ist überwältigend. Eine derart tragische Komik sucht ihresgleichen: nach hinten pendelnde Oberkörper, die zum Glockenschlag wieder zusammentreffen. Ein mit Koffern und einem Menschen beladener menschlicher Packesel – Gleichgewicht verzweifelt gesucht, Sprung und Fall ohne Unterlass. Eine Schneeschlacht, ausgelassen, verspielt, akrobatisch. Nie habe ich einen besseren Schneeengel gesehen als Maria Carolina Vieira; warum sollte ein Engel auch Knochen haben? Jos Baker trägt seinen Schneeengel wie ein Rad, tanzt mit ihr, ohne dass sie wesentlich ihre fixierte Rolle rückwärts auflöst. Dann sein Solo, eine “tour de force” im wörtlichen Sinne; das Spiel mit den Muskeln, der Versuch, die Spannung zu halten missglückt immer wieder, der Oberkörper spielt nicht mit, der Bauch kuckt raus, die Gliedmaßen tanzen ihm davon, alles entspannt sich, neuer Versuch. Musikalisch untermalt durch “Casta Diva”, gesungen von der Sängerin des Ensembles, Eurudike de Beul.

Plötzlich starren alle Darsteller angsterfüllt in Richtung des Publikums – bemüht, keine hektischen Bewegungen zu machen, alles unter Kontrolle, just go inside girls. Die Sängerin holt ein Gewehr. Wovor fürchten sie sich? Vor Tieren? Vor uns? Ist das ein und dasselbe?  Spuren von Reality TV, gebrochen durch und mit Tanz und ad absurdum geführt:

Der Packesel vom Anfang auf dem Weg zur Babymörderin – Tanz mit dem Regenschirm, singing in the rain, der Sturm dreht und wendet den Schirm, der Darsteller hält sich am Fenster fest, die Beine vom Wind wegezogen. “If you need some tourist information, don’t hesitate. Call me. I’ll kill you” das, und eine Art ritueller Masturbationstanz – im Hintergrund laufen Skitouristen durch und winken. Die Babymörderin ist schwanger, eine brutale Abtreibung, eine Art Party danach, zuckend, epileptisch. Eifersucht, Schwanenprinzessin-Horrorvision vom Partner mit einer anderen, die er für das Original hält. Ein Waschbär?

Die vielen kleinen Geschichten und Elemente laufen nacheinander, gleichzeitig, auf der Bühne ab. Zu viel? Vielleicht für den, der keine Geschichten mag. Durch die Scheiben der hell erleuchteten Fenster sehen wir alles, groß-klein-hübsch-hässlich. Grausam und zutiefst berührend ist ein Duett von Jos Baker und Maria Carolina Vieira – sie gibt sich ihm hin, sie kann nicht anders, und doch misshandelt er sie immer aufs Neue. Sieht ihr zu, wie sie sich quält, sie tanzt für ihn, aber sie tanzt nicht schön, sie kann nicht. Sie ist wie eine Puppe in seinen Händen, eine Leiche, an der er sich vergeht. Aber nicht wörtlich – nur durch Tanz. Der Tanz ist das Mittel, die Lösung, das Vergehen, die Erlösung: zum gesungenen “Agnus Dei” tanzt SeolJin Kim, ein letztes Mal, dämonisches Maskengesicht, verzogen, entstellt, Todestanz.

Besuchte Vorstellung: 18.01.2013, weitere Vorstellungen: 12. und 13.04.2013, Oldenburgisches Staatstheater, jeweils 19.30 Uhr